Hamburg - 26.02.2025

Zeitenwende 2.0 – Europäische Sicherheit unter Donald Trump

Dr. Karl-Heinz Kamp war Forschungsdirektor am NATO Defense College in Rom, Präsident der Bundesakademie für Sicherheitspolitik und zuletzt Sonderbeauftragter im Bundesministerium der Verteidigung

Schlimmer als erwartet – so stellen sich aus der Sicht der Europäer die ersten Wochen der zweiten Amtszeit Donald Trumps dar. Dabei geht es diesmal nicht mehr nur um Zölle, Verteidigungsausgaben und Lastenteilung, sondern es zeigt sich ein tiefer politischer Riss quer durch den Atlantik. Der neue Präsident und Teile der Republikaner sehen sich, zusammen mit Ungarns Autokratie, den deutschen Rechtsextremisten in der AFD oder der polnischen PIS-Partei, als die wahren Vertreter der westlichen Werte - gegen das liberale Europa mit seinen Merkwürdigkeiten wie Gleichberechtigung, Humanität oder Respekt vor dem Recht. Die neue Administration in Washington gebärdet sich zunehmend wie eine Oligarchenherrschaft, für die nicht die Interessen des eigenen Landes im Mittelpunkt stehen, sondern vor allem die Belange weniger reicher Tycoons. Europa existiert in deren Augen lediglich als Absatzmarkt und als störischer Partner, der für den bisher durch die USA gewährten Schutz künftig zahlen soll. 

Diese atemberaubende Entwicklung birgt nicht nur immense Gefahren für die internationale Ordnung, sondern auch für die Vereinigten Staaten selbst. Gerichte werden Entscheidung des Präsidenten etwa zu Massenentlassungen in Ministerien blockieren, während Trump schon angekündigt hat, solche Richtersprüche zu ignorieren. Eine amerikanische Verfassungskrise scheint unvermeidbar, zumal es anders als in der ersten Amtszeit derzeit noch keine breite Bewegung in den USA gibt, die sich dem Präsidenten entgegenstellt. Die Demokraten verharren in Schockstarre und auch gemäßigte Republikaner ducken vor der vermeintlichen Macht des Präsidenten. 

Damit stellt sich die Frage, wie Europa seine eigene Sicherheit und den Schutz vor Russlands neoimperialen Begierden unter solch grundlegend veränderten Bedingungen gewähren kann. Hatten nach Trumps erstem Amtsantritt einige Verbündete noch versucht, durch besonderes Wohlverhalten den amerikanischen Schutz bilateral zu vereinbaren, so ist diese Option heute kaum noch gegeben.  Mit einem Präsidenten, der von der Annexion Grönlands, Teilen Kanadas oder des Panamakanals träumt, den Gazastreifen in eine neue Riviera verwandeln möchte und sich für den einzig denkbaren Anwärter auf den Friedensnobelpreis hält, wird es schwer sein, wirkliche Gemeinsamkeiten zu finden. Wenn dann auch noch in grotesker Umkehr der Tatsachen die Ukraine als Aggressor und Putin als Verteidiger dargestellt wird, ist gerade für Osteuropa die Grenze des Erträglichen überschritten. 

In einer solchen Lage muss es für Europa und Deutschland vor allem um Selbstbestimmung gehen und das heißt in der Sicherheitspolitik die Fähigkeit zur militärischen Selbstverteidigung. Dafür braucht es keine Diskussion um prozentuale Anteile der Verteidigungsausgaben am Bruttoinlandsprodukt (BIP), obgleich solche Zwei-Prozent-Debatten innerhalb der Atlantischen Allianz über Jahre mit Innbrunst geführt wurden. Die Europäer müssen stattdessen nur das erfüllen, was sie innerhalb der NATO an militärischen Fähigkeiten zugesagt und in der Vergangenheit meist geflissentlich ignoriert haben. Geschieht dies rasch, so folgt nach Berechnungen von NATO-Generalsekretär Mark Rutte ganz automatisch, dass die europäischen NATO-Mitglieder rund 3,5 Prozent ihres BIP für Verteidigung ausgeben müssten. Davon würde übrigens auch Amerika profitieren, weil ein Teil militärischen Geräts in den USA geordert werden müsste, da die europäischen Waffenschmieden gar nicht die Kapazitäten für einen solchen raschen Rüstungszuwachs haben. 

Werden die von den amerikanischen Sicherheitsgarantien über Jahrzehnte verwöhnten Europäer die notwendigen Investitionen in ihre Streitkräfte womöglich zulasten liebgewordener Sozialleistungen leisten können und wollen? Ja, wenn die Regierungen ihnen erklären, dass der europäische Arbeitnehmer 30 Tage Urlaub hat, der Amerikaner aber nur 12 und auch die nicht garantiert und nur nach längerer Betriebszugehörigkeit. Entsprechend gering ist die Bereitschaft der USA – ob mit oder ohne Trump – weiterhin den europäischen sozialen Wohlstand zu subventionieren. Weist man dann auch noch darauf hin, dass Europa 9,3 Prozent der Weltbevölkerung stellt aber gleichzeitig fast 60% der globalen Sozialausgaben finanziert, dann wird klar, dass es in den meisten europäischen Staaten Spielräume für Budgetverschiebungen zur Wahrung der eigenen Sicherheit gibt.

Gleiches gilt für die weitere Unterstützung der Ukraine. Das Ende des amerikanischen Beistands für das ums Überleben kämpfende Land wäre schmerzhaft – allerdings haben die Europäer mit bislang rund 140 Milliarden Euro mehr Mittel für die Ukraine bereitgestellt als die USA und werden diese Hilfe auch fortführen. Gleiches gilt für Sanktionen gegenüber Moskau, welche die EU weiter verschärft, ganz gleich auf welche „Deals“ sich Donald Trump und Wladimir Putin verständigen werden. Kein Grund also, sich unakzeptablen Diktaten aus Washington zu unterwerfen.

Wie aber steht es bei all diesen transatlantischen Wirrungen um den amerikanischen Nuklearschirm über Europa – eine der tragenden Säulen der NATO und des transatlantischen Sicherheitsverbundes? Daran hat der Präsident bislang noch nicht gerüttelt, auch weil er amerikanischen Interessen dient, wenig kostet und sich teilweise aus den ohnehin vorhandenen nuklearen Fähigkeiten der USA ergibt. Stattdessen betonen die Republikaner unisono die Wichtigkeit und den Erhalt der nuklearen Abschreckung.

Dennoch lohnen sich Überlegungen für den Worst-Case, da Hoffnung allein bekanntlich nicht die Politik ersetzt. Was wäre, wenn Donald Trump ankündigt, nicht mehr für die Verbündeten einzustehen – ob konventionell oder nuklear?

Zunächst scheitert die gerade in Deutschland populäre Idee, Frankreich könne in diesem Fall seinen Nuklearschirm über Deutschland und Europa aufspannen, an den politischen Grundsätzen der Franzosen. Paris lehnt die Idee der „Erweiterten Abschreckung“, also dass ein Nuklearstaat atomare Sicherheitsgarantien für einen nicht-nuklearen Verbündeten übernehmen könne, seit jeher ab. Für Paris sind Kernwaffen nationale Waffen, die nur das eigene Territorium schützen können. Deshalb hat Frankreich ein eigenes Nuklearpotential entwickelt, statt sich auf den Schirm der USA zu verlassen. An diesem Credo hat bislang kein Präsident seit Charles de Gaulle etwas geändert. 

Allerdings – und das ist die gute Nachricht - verfügt die NATO über zwei europäische Nuklearmächte, Frankreich und Großbritannien, die in allen NATO-Dokumenten als unabhängige Entscheidungszentren bezeichnet werden. Sie stärken in der NATO-Logik die Abschreckung, weil sie das Kalkül für einen Angreifer verkomplizieren. 

Würden aber diese eher kleinen Arsenale ausreichen, um die große Nuklearmacht Russland abzuschrecken, wenn Washington seinen Nuklearschirm über Europa zuklappt? Keiner weiß es. Allerdings manifestiert sich Abschreckung nicht nur in der Anzahl der Sprengköpfe und Raketen, sondern auch und gerade im Kopf des Angreifers. Könnte sich Putin bei einem möglichen Angriff etwa auf Polen wirklich sicher sein, dass London und Paris nicht nuklear reagieren würden? Verkalkuliert er sich, wäre der Schaden für Russland so gewaltig, dass jeder erhoffte „Nutzen“ des Angriffs weit übertroffen würde. Das war stets die Begründung Frankreichs für den Erhalt seines vergleichbar kleinen Kernwaffenarsenals: man könne – so hieß es oft in Paris – den Bären zwar nicht erlegen, ihm aber sehr wohl eine Tatze abreißen. Das Wissen um diese Gefahr würde Moskau von unbedachten Aggressionen abhalten. 

Heißt das, dass der amerikanische Nuklearschutz leicht ausgeglichen werden könnte? Natürlich nicht aber ohne ihn würde die Abschreckung in Europa gegenüber Russland nicht völlig verschwinden. Allerdings können die Europäer und gerade Deutschland bereits jetzt mehr tun, um sich auf solches Szenario besser vorzubereiten. 

Erstens sollten die beiden Nuklearmächte Frankreich und Großbritannien ihren einstmals engen aber durch die Wirren britischen EU-Austritts (Brexit) abgeschwächten Dialog über ihre Kernwaffenpotentiale wieder intensivieren. Dadurch würde die Abschreckung insgesamt gestärkt, ohne dass die französische nukleare Unabhängigkeit oder die britischen nuklearen Sonderbeziehungen zu den USA Schaden nehmen würden. 

Zweitens sollte Deutschland das von Frankreich seit langem gemachte Angebot annehmen, in einen Dialog über nukleare Abschreckung einzutreten. Dies wäre keine Alternative für die Nukleardebatten mit den USA in der Nuklearen Planungsgruppe der NATO, sondern eine Ergänzung. Auch müssten in diesen Dialog unbedingt Großbritannien einbezogen werden und – je nach Interesse – auch andere große EU-Mitglieder wie etwa Polen. Das hat nichts mit einer gemeinsamen europäischen Nuklearmacht zu tun, von der so mancher träumt und dabei ignoriert, dass Europa keine gemeinsame Regierung hat, die solche gemeinsamen Kernwaffen auch einsetzen könnte. 

Drittens müsste gerade Deutschland das im Kalten Krieg durchaus vorhandene Wissen über die Grundlagen nuklearer Abschreckung wieder reaktivieren. In der NATO wird dies als die „Stärkung des nuklearen IQ“ bezeichnet. Die Anzahl der Professoren in Deutschland, die sich in ihren Seminaren mit Fragen nuklearer Abschreckung befassen, liegt im kleinen einstelligen Bereich. Selbst an der Führungsakademie der Bundeswehr spielen Nuklearfragen nur eine Nebenrolle. Hier herrscht gewaltiger Nachholbedarf. Will man auch als Nicht-Nuklearstaat in Fragen der Abschreckung – sei es in der NATO oder bilateral mit Frankreich und Großbritannien – mitreden, ist nukleares Grundwissen bei den politischen Entscheidern unerlässlich. 

Auch wenn nicht alle Absurditäten, die derzeit aus dem Weißen Haus nach außen dringen, sich in reale Politik übersetzen werden, ist die Dramatik der Veränderungen nicht zu leugnen. Darauf kann Europa nicht mit der bislang oft anzutreffenden Behäbigkeit reagieren. Stattdessen bedarf es einer Zeitenwende 2.0 – nicht nur in Berlin, sondern in allen wichtigen Hauptstädten Europas.