Hamburg - 06.03.2025

Trumps Schulterschluss mit Putin und deutsche Sicherheitspolitik

Dr. habil. Cornelius Friesendorf ist Leiter des Zentrums für OSZE-Forschung (CORE). Vor seinem Wechsel an das IFSH im Jahr 2018 hat er für ein EU-Polizeireform-Projekt in Myanmar gearbeitet. Davor war er Wissenschaftler am Exzellenzcluster Normative Ordnungen der Goethe-Universität Frankfurt, am Peace Research Institute Frankfurt (PRIF), am Geneva Centre for Security Sector Governance, an der ETH Zürich und an weiteren Institutionen. Seine Habilitationsschrift (Goethe-Universität Frankfurt) untersuchte militärische Praktiken in asymmetrischen Konflikten und seine Dissertation (Universität Zürich) Strategien gegen den Drogenhandel. Zudem hat er an der FU Berlin, der London School of Economics, in Bristol und Göttingen Politikwissenschaft studiert und für den BBC World Service in London gearbeitet. Cornelius Friesendorf spricht Deutsch, Englisch, Französisch und Russisch.

Dr. Wolfgang Zellner ist Senior Research Fellow am IFSH. Er arbeitete von 1994 bis 2019 in verschiedenen Funktionen am IFSH, seit 2005 schließlich als Stellvertretender Wissenschaftlicher Direktor und Leiter des Zentrums für OSZE-Forschung (CORE). Er ist Initiator und Mitgründer des OSCE Network of Think Tanks and Academic Institutions. Wolfgang Zellner ist Diplomsoziologe (Universität Regensburg) und wurde 1993 an der Freien Universität Berlin mit dem Thema „Die Verhandlungen über konventionelle Streitkräfte in Europa unter besonderer Berücksichtigung der neuen politischen Lage in Europa und der Rolle der Bundesrepublik Deutschland“ summa cum laude promoviert. Von 1984 bis 1991 war er als Berater eines Bundestagsabgeordneten tätig und beschäftigte sich mit Fragen von Sicherheits- und Militärpolitik sowie europäischer Rüstungskontrolle.

Trump will einen Deal mit dem Kreml, um den Ukrainekrieg zu beenden. Alles läuft auf einen Diktatfrieden für die Ukraine und auf ein Appeasement Russlands hinaus. Die Ukraine soll Gebiete aufgeben und nicht in die NATO aufgenommen werden. Sie dürfte auch keine robusten US-Sicherheitsgarantien erhalten, wie die Entscheidung Trumps Anfang März zeigt, die Ukrainehilfe zu stoppen. 

Neben dem Gebietsabtritt erinnern auch die Formate der Gespräche an das Münchener Abkommen von 1938, als Frankreich, Großbritannien und Italien mit Nazi-Deutschland entschieden, dass das Sudetenland an Deutschland geht – ohne die Teilnahme der Tschechoslowakei an der Konferenz. Ähnlich entscheiden die USA nun gemeinsam mit Russland über die Köpfe der Ukraine hinweg. Weder waren andere europäische Staaten mit Stand Anfang März an Verhandlungen zwischen Washington und Moskau beteiligt, auch wenn das Weiße Haus Europa für die Absicherung eines Abkommens verantwortlich sieht. 

Dieser Beitrag soll zeigen, dass Trumps Deal keinen Frieden in der Ukraine schaffen kann. Die Folgen des US-Appeasement gegenüber Russland sind vor allem für die Ukraine dramatisch, aber auch für Deutschland. Die neue Bundesregierung braucht eine Russland-Strategie, in deren Zentrum eine stärkere Unterstützung der Ukraine und ein Ausbau der Landes- und Bündnisverteidigung steht. Der erste Teil des Aufsatzes zeigt, warum Trumps geplanter Deal vor allem keinen gerechten, aber auch keinen stabilen Frieden produzieren wird. Ein zweiter Teil skizziert, was das für eine deutsche Russland-Strategie bedeutet. 

Warum Trumps Deal keinen Frieden bringen wird

Die Russland-Politik der Trump-Administration läuft auf die Forderung hinaus, die Ukraine müsse einem Diktatfrieden zustimmen. Für Putin sind schon direkte Verhandlungen mit den USA ohne die Ukraine und andere europäische Staaten ein großer Erfolg. In der russischen Regierung herrscht Euphorie, da die USA die NATO-Anwartschaft der Ukraine aufgegeben haben; die Ukraine zur Aufgabe von Territorium zwingen wollen; und keine Sicherheitsgarantien für die Ukraine in Aussicht gestellt haben. 

Der größte strategische Erfolg des Kreml ist aber, dass sich die USA politisch und militärisch aus Europa zurückziehen wollen, was die Zukunft der NATO in Frage stellt. Eine verteidigungspolitische Abkoppelung der USA von Europa war das Hauptziel der Sowjetunion. Dies wurde aber nie erreicht – trotz vieler NATO-interner Debatten während des Kalten Krieges über burden sharing. Die US-Republikaner erfüllen dem Kreml nun diesen Traum. 

Idealerweise ist ein Frieden gerecht und stabil. Trumps gewünschter Deal würde das Gegenteil eines gerechten Friedens produzieren: der Aggressor würde belohnt. Freilich ist Gerechtigkeit keine Kategorie, in der Trumps Leute denken. Dies zeigt sich an der Demütigung Selenkyjs vor laufenden Kameras im Weißen Haus am 28. Februar 2025 wie auch an dem geplanten und dann nicht unterzeichneten Rohstoff-Deal, mit dem die USA de facto Schutzgeld erpressen wollen. Manche in der Ukraine hoffen, dass dies eine indirekte Sicherheitsgarantie ist, da die USA daran interessiert sein dürften, dass russische Angriffe die Förderung und Lieferung von Rohstoffen nicht verhindert. Die Hoffnung in eine USA, die die Ukraine in dieser existentiellen Krise noch ausbeuten, zeigt allerdings, wie verzweifelt die Lage der Ukraine ist. Ungerecht wird Trumps Deal vor allem für diejenigen in den russisch besetzten Gebieten in der Ukraine sein, für die das russische Folterregime nun als dauerhaft festgeschrieben werden soll. 

Kann Trumps gewünschter Deal mit Putin aber zumindest einen stabilen Frieden produzieren? Drei Gründe sprechen dagegen: die Triebkräfte des russischen territorialen Revisionismus, empirische Erfahrungen mit Russland und fehlende robuste Sicherheitsgarantien für die Ukraine. 

Russische Motive

In wissenschaftlichen Debatten über die Gründe für den russischen Revisionismus sieht eine Mindermeinung den Hauptgrund in westlichen Entscheidungen und Strategien wie Interventionen ohne russische Zustimmung (Jugoslawien, Irak, Libyen), der NATO-Osterweiterung und westlicher Unterstützung für Demokratiebewegungen in Nachfolgestaaten der Sowjetunion. Spätestens seit dem 24. Februar 2022 ist dagegen Mehrheitsmeinung, dass die Gründe in Russland selbst zu finden sind. Hierbei werden viele Faktoren aufgeführt, wie der Anspruch auf Großmachtstatus oder die Persönlichkeit Putins. 

Eine organisationstheoretische Perspektive – die in Debatten zu selten explizit zu finden ist – eignet sich, innenpolitische Triebkräfte russischer Sicherheitspolitik zu bündeln. Hierbei steht der Aufstieg der siloviki im Zentrum, also von Personen (fast ausschließlich Männern) aus den bewaffneten Institutionen, insbesondere den Geheimdiensten. Deren Weltsicht und Interessen (wenn auch nicht völlig homogen) ist entscheidend, um russische Sicherheitspolitik zu verstehen und die langfristigen Erfolgschancen eines Ukraine-Deals einzuschätzen. 

Drei Motive sind handlungsleitend für die siloviki. Erstens beanspruchen sie für Russland einen Großmachtstatus. Es ist eine Weltsicht, die aus dem 19. Jahrhundert stammt, als kleinere Staaten Verfügungsmasse von Großmächten waren. Vor allem auf dem Gebiet der früheren Sowjetunion beansprucht Russland eine solche Sonderrolle. Die Westbindung der Ukraine ist diesem Statusanspruch diametral entgegengesetzt. 

Das zweite Motiv der siloviki ist die Abwehr einer vermeintlichen Bedrohung Russlands. So entstand ein Sicherheitsdilemma, indem die siloviki die NATO und ihre Verteidigungsanstrengungen als Aggression gegen Russland sehen. Sie antworten darauf neben Aufrüstung sogar in Form territorialer Expansion, seitdem die militärische und wirtschaftliche Kraft Russlands dank der hohen Öleinnahmen ab den 2000er Jahren dies zulässt. Sicherheit will der Kreml insbesondere durch strategische Tiefe erreichen. Ähnlich wie beim Statusanspruch bestreitet Russland damit das Recht ost- und mitteleuropäischer Staaten, durch einen Beitritt zu NATO und EU außenpolitisch souverän handeln zu können. Aus russischer Sicht würde eine Ukraine, die der NATO angehört, die Bedrohung für Russland wesentlich erhöhen. Allerdings macht der Versuch, strategische Tiefe zu schaffen, nicht an der Westgrenze der Ukraine Halt. Dies zeigen die Vertragsentwürfe, die Russland den USA und der NATO 2021 ultimativ vorgelegt hatten und die den Rückzug der NATO auf Gebiete vor 1997 fordern. 

Das dritte Motiv der siloviki ist Machterhalt. Auf dem Spiel stehen Privilegien, aber selbst das eigene Leben, da Autokratien schlecht darin sind, Machtwechsel friedlich zu organisieren. Allerdings sind enge Eigeninteressen und Ideologie bei den siloviki schwer zu trennen: aus ihrer Sicht ist das, was gut für sie ist, auch gut für Russland. Man lebt privilegiert, aber gleichzeitig im Dienste eines allmächtigen russischen Staates (dies unterscheidet die siloviki von Trumps Libertären). Auch beim Punkt Machterhalt stellt die Westbindung der Ukraine eine Bedrohung dar: eine demokratische und erfolgreiche Ukraine hätte Strahlkraft weit nach Russland hinein. 

Erfahrungen mit Russland 

Neben diesen sicherheitspolitischen Motiven sprechen Erfahrungen mit Russland dagegen, dass selbst ein Abkommen, das für die Ukraine einen Diktatfrieden bedeutet, einen stabilen Frieden bringen wird. Die vergangenen Jahrzehnte zeigen, dass die russische Regierung kein verlässlicher Partner ist. Dagegen finden sich für Vertragsbruch und Lügen viele Beispiele. 

Dies ist nicht verwunderlich: Regelbasiertes Handeln gegenüber konkurrierenden oder illoyalen Staaten oder Personen ist nicht Teil der tschekistischen Organisationskultur. Dagegen ist es für die siloviki Routine, in die Trickkisten des KGB und seiner Nachfolgeorganisationen zu greifen. In dieser finden sich Anleitungen für Propaganda und Desinformation, Spionage, verdeckte Operationen, Angriffe auf kritische Infrastruktur, Erpressung durch kompromittierendes Material (kompromat), Drohungen und Morde. In der Ukraine dürfte der Kreml im Falle eines Friedensvertrages und anschließender Wahlen solche Methoden massiv verwenden, um eine russlandfreundliche Regierung zu schaffen.

Fehlende Sicherheitsgarantien

Es gibt einen dritten Grund, warum Trumps geplanter Deal allenfalls eine Feuerpause anstatt stabilen Frieden bringen wird: robuste Sicherheitsgarantien waren mit Stand Anfang März nicht zu erkennen. Die USA lehnen es ab, sich auf Sicherheitsgarantien zu verpflichten. Europäische Staaten können die Abkehr der USA von Europa und den von Trump verfügten Stopp von US-Militärhilfe an die Ukraine kaum kompensieren. 

Das Denken der US-Administration in kurzfristigen Erfolgen erhöht damit wesentlich das Risiko der Ukraine, seine Unabhängigkeit zu verlieren. So dürfte Putin versucht sein, ein Friedensabkommen zu verletzen. Der Kreml könnte seine Kommandeure anweisen, eine mögliche internationale Friedenstruppe durch Provokationen oder Angriffe zu testen. Oder Russland könnte – falls ein Waffenstillstand oder ein Friedensabkommen vorsieht, den Krieg entlang der bestehenden Frontlinie einzufrieren – nach einer Konsolidierung der eigenen Streitkräfte wieder einen großen Angriff starten. Mögliche Ziele wären, mindestens die restlichen Gebiete zu besetzen, die Russland laut seiner Verfassung für sich beansprucht, oder eine Moskautreue Regierung in Kyjiw einzusetzen („Entnazifizierung“). 

Was bedeutet das für deutsche Sicherheitspolitik?

Der Schock sitzt tief in Deutschland über das Ende der 70-jährigen transatlantischen Partnerschaft. Diese dürfte auch nach Trump in ihrer gewohnten Form kaum wieder aufgenommen werden, da die historische Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg verblasst und Asien für die USA wichtiger als Europa ist. Was bedeutet dieser Bruch, in Kombination mit der russischen Aggression und deren innenpolitischen Motiven? 

Die Antwort ist offensichtlich: gewaltige Investitionen in die Verteidigung. CDU/CSU und SPD schlagen diesen Weg nun ein (nachdem die Union – wenig aufrichtig – bis zur Bundestagswahl noch so getan hatte, als sei Sicherheit ohne Schulden zu haben). Verteidigung gegen Russland sollte Kern einer Russland-Strategie der Regierung Merz sein, eine solche Strategie sollte aber darüber hinaus gehen.

Ukrainehilfe 

Mit dem möglichen Ende von US-Militärhilfe an die Ukraine und ohne eine Aussicht auf verlässliche US-Sicherheitsgarantien ist die beste von allen schlechten Sicherheitsgarantien, die Ukraine aufzurüsten. Die konventionelle Stärke der Ukraine muss ein wichtiger Faktor sein, um den Kreml im Falle eines Trump-Deal von erneuten Angriffen abzuschrecken oder diesen standhalten zu können. Für Deutschland ist dies ethisch geboten, angesichts deutscher Verbrechen gegen die Ukraine im Zweiten Weltkrieg und einer verfehlten Russlandpolitik unter Merkel. Auch ist massive Militärhilfe ordnungspolitisch geboten. Zwar ist der Übergang von einer regelbasierten zu einer machtbasierten internationalen Ordnung rasant. Aber Deutschland sollte eine regelbasierte Ordnung, die Angriffskriege nicht belohnt, trotzdem so weit wie möglich verteidigen. Ukrainehilfe ist darüber hinaus im eng definierten Interesse Deutschlands. Ein politscher und militärischer Zusammenbruch der Ukraine würde nicht nur das Risiko eines Angriffs auf NATO-Gebiet erhöhen, sondern weitere Folgen wie Millionen von Flüchtlingen mit sich bringen.

Landes- und Bündnisverteidigung

Zusätzlich zur Ukrainehilfe braucht es bessere Bündnis- und Territorialverteidigung.  Selbst im Falle eines Abkommens ist es wahrscheinlich, dass die russische hybride Kriegführung gegen Deutschland zunehmen wird. Auch steigt das Risiko eines Angriffs militärischer Verbände auf Bündnisgebiet, da unklar ist, ob für Trump Artikel 5 des NATO-Vertrages noch gilt. Ziel muss vor allem sein, dass Europa strategische Fähigkeiten wie bei der Luftverteidigung, dem Transport und der Aufklärung schafft, die wegfallende US-Fähigkeiten ersetzen können. Im Innern geht es darum, den Bevölkerungsschutz so zu organisieren, dass Deutschland auf eine Eskalation russischer Angriffe besser vorbereitet wäre. 

Was das Format deutscher und europäischer Verteidigung angeht, geht es darum, flexible Koalitionen williger Staaten zu organisieren, die so weit wie möglich NATO-Strukturen nutzen. 

Fatal wäre es, auf die EU zu vertrauen. Dieser fehlen militärische Fähigkeiten wie Kommandozentralen; sie schließt Partner wie Großbritannien und Norwegen aus und Russlandfreunde wie die ungarische und slowakische Regierung ein; und sie basiert in zentralen Entscheidungen auf Einstimmigkeit. Auch ist zweifelhaft, ob die Bedrohung durch Russland ausreicht, um unterschiedliche strategische Kulturen (etwa die Deutschlands und Frankreichs) einander anzugleichen und um nationale Egoismen und bürokratische Praktiken beim Beschaffungswesen in Europa zu überwinden. 

Der EU dürfte es wie so oft in der Vergangenheit weiterhin schwerfallen, Versprechen umzusetzen. So hatte 1991 der luxemburgische Außenminister angesichts der Gewalt in Jugoslawien von der „Stunde Europas“ gesprochen; aber erst dank US-Führung endeten die Kämpfe. Ernüchternd ist auch, wie unfähig die EU auf die erste Trump-Administration reagiert hat. Freilich hat die EU bei der europäischen Verteidigung eine Rolle, insbesondere für deren Finanzierung, etwa durch Kredite für Rüstungsvorhaben und eine Ausnahmeregelung bei der Schuldenbegrenzung von Mitgliedstaaten. 

Eine politische Russland-Strategie

Mehr Ukrainehilfe und Verteidigung sollte Teil einer politischen Russland-Strategie der neuen Bundesregierung sein. Diese sollte auch weitere Elemente einschließen. Deutschland sollte gegenüber seinen Partnern darauf hinwirken, die Wirtschaftssanktionen gegen Russland (die Trump aufweichen oder aufheben will) beizubehalten. 

Gleichzeitig benötigt es minimale Zusammenarbeit mit Russland auf ausgewählten Feldern. Beispiele sind die Verteidigungs- und Umweltpolitik. Schritte wie die bisher noch geplante Stationierung von US-Mittelstreckenraketen in Europa müssen darauf geprüft werden, ob die auf beiden Seiten hohe Bedrohungswahrnehmung durch Rüstungskontroll-Maßnahmen eingehegt werden kann. Bei der globalen Klimapolitik geht es darum, Russland von fossilen Brennstoffen wegzubewegen und den alternativen russischen Klimadiskurs zu kontern, der auf ‚naturbasierte Lösungen‘ wie Wäldern als CO2-Senken setzt. Hierfür braucht es Gesprächskanäle sowohl in die russische Regierung innerhalb internationaler Organisationen als auch transnationale wissenschaftliche Zusammenarbeit (wenn auch mit einzelnen russischen Wissenschaftlern anstatt russischen Institutionen). 

Eine Russlandstrategie muss an mögliche Veränderungen in Russland angepasst werden. Im Idealfall entthronen liberale Kräfte die siloviki. Dies ist aber zumindest mittelfristig unwahrscheinlich. Ihre Resilienz haben die siloviki schon einmal, nach Ende des Kalten Krieges, bewiesen. 

Eine deutsche Russland-Strategie benötigt eine Erklärung, warum eine Strategie, deren Kern aus Militärhilfe und Verteidigung besteht, notwendig ist. Hier gilt es, zwei (zusammenhängende) Narrativen entgegenzutreten. Diese werden vor allem von der AfD und dem BSW genutzt und sind schon zu gefährlichen Mythen geworden. Sie lauten: a) Wenn westliche Staaten russische Sicherheitsinteressen stärker berücksichtigt hätten, hätte Russland die Ukraine nicht angegriffen b) Nicht die militärische Befähigung der Ukraine, sondern Verhandlungen erhöhen die Chancen auf Frieden in der Ukraine. 

Eine Russland-Strategie muss eine überzeugendere Kausalität anbieten. Das verlangt auch, Annahmen, die implizit Teil dieser Narrative sind, zu problematisieren. So schwingt bei vielen Forderungen nach Friedenverhandlungen die Annahme mit, ein Interessenausgleich mit dem Kreml zu einem akzeptablen Preis sei möglich. Dies ist angesichts dessen, was wir über die Motive des Kreml wissen, keine tragfähige Annahme. 

Freilich sind plausiblere Narrative als die beiden oben genannten notwendigerweise kompliziert und aufgrund methodischer Herausforderungen angreifbar. So lassen sich Motive des Kreml wie Großmachtdenken und Regimestabilität nicht gewichten, und sie haben sich über die Zeit verändert; und wir können Motive wie Großmachtdenken nicht direkt beobachten, sondern nur theoretisch und empirisch rekonstruieren. Allerdings können Unterstützer der Ukraine ihre Argumentation durch Forschung zu russischen Motiven und durch empirische Evidenz russischer Praktiken stützen und so die beiden oben genannten Narrative als Mythen entlarven.

Die zentrale Triebkraft der russischen Sicherheitspolitik – die Weltsicht und die Interessen der siloviki – bedeuten, dass westliche Entscheidungen und Strategien keine Hauptursache für den russischen Revisionismus waren, sondern diesen allenfalls verstärkt haben. Eher diente und dient westliche Politik den siloviki als Propagandamaterial, das auf einen fruchtbaren Nährboden trifft: imperialistisches Denken teilen auch weite Teile der (nicht-siloviki-)Eliten und der Bevölkerung. 

Zwar haben sich Rhetorik und Praxis der russischen Regierung im Laufe der Zeit radikalisiert. Aber ein genaues Lesen von Texten wie Putins Bundestagsrede 2001 zeigt, dass eine imperiale Weltsicht eine Konstante ist. Was die Praxis angeht, so gab es Zusammenarbeit mit dem Westen, etwa nach den Anschlägen vom September 2001. Diese war aber taktisch begründet und erfolgte einer funktionalen Notwendigkeit zu einer Zeit, als Russland auf wirtschaftliche Zusammenarbeit mit dem Westen angewiesen war. 

Um die beiden oben genannten Narrative als Mythen zu entlarven, sollte eine neue Russland-Strategie auch kontrafaktisch argumentieren. Hätten andere westliche Entscheidungen (wie etwa, nach 1991 keine neuen Staaten in die NATO aufzunehmen) den Aufstieg der siloviki verhindert? Eine solche Argumentation gibt internationalen Faktoren zu viel und innerrussischen Machtkämpfen zu wenig Gewicht. Hätte der Versuch des Westens, russische Interessen noch mehr zu berücksichtigen (als ohnehin schon, etwa durch den NATO-Russland-Rat) den Kreml von seinem Revisionismus abhalten können? Dagegen spricht, dass eine imperialistische Weltsicht und eine umfassende Bedrohungswahrnehmung in der siloviki-DNA verankert ist. Was wäre der Preis des Versuchs, die russischen Wünsche nach Großmachtstatus, strategischer Tiefe und Regimestabilität zu erfüllen? Andere Staaten als zweitrangig zu behandeln; Russland ein Veto in allen Bereichen einzuräumen, in denen es sich bedroht sieht; und Feindzuschreibungen des Kreml zu übernehmen – kurzum: die regelbasierte Ordnung zugunsten einer machtbasierten Ordnung aufzugeben. 

Zu schlechter Letzt: Was für einen Frieden bringen Verhandlungen ohne robuste Sicherheitsgarantien für die Ukraine? Nicht viel im Hinblick auf die Motive des Kreml.