Prof. i. R. Dr. Gerhard Kruip, geb. 1957 in München, war von 2006 bis 2024 Professor für Christliche Anthropologie und Sozialethik an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Von 1975 bis 1981 studierte er Mathematik und Katholische Theologie in Würzburg und wurde 1989 promoviert, 1995 habilitiert. Von 1995 bis 2000 war er Direktor der Katholischen Akademie für Jugendfragen, von 2000 bis 2009 Direktor des Forschungsinstituts für Philosophie Hannover.
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Seit drei Jahren führt der russische Präsident Wladimir Putin einen völkerrechtswidrigen Angriffskrieg gegen die Ukraine und scheint nicht bereit für Verhandlungen mit dem Ziel eines gerechten Friedens. Nach dem außergewöhnlich brutalen Terrorangriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 hat der Staat Israel zwar sicherlich ein Recht auf Selbstverteidigung, achtet aber im Krieg gegen die Hamas im Gazastreifen und gegen die Hisbollah im Libanon nicht das Prinzip der Verhältnismäßigkeit. Der internationale Strafgerichtshof (IStGH) hat deshalb einen Haftbefehl gegen Staatschef Benjamin Netanjahu erlassen, der vom EU-Mitglied Ungarn, Mitunterzeichner des Römischen Statuts des IStGH, demonstrativ ignoriert wird. Sogar der aller Voraussicht nach künftige Kanzler der Bundesrepublik Deutschland, Friedrich März, hat angekündigt, bei einem möglichen Besuch Netanjahus in Deutschland diesen Haftbefehl nicht zu vollstrecken, wozu Deutschland jedoch wie Ungarn völkerrechtlich verpflichtet ist. Obwohl das Recht auf Asyl zum Kernbestand der Grundrechte der deutschen Verfassung zählt, fordert ausgerechnet der Präsident des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (BAMF), Hans-Eckhard Sommer, dessen Abschaffung. In vielen Ländern der EU werden rechtspopulistische bis rechtsextreme Parteien immer stärker. Dies gefährdet den Zusammenhalt der EU und könnte die wichtige, an Werten orientierte Politik der EU gefährden, für die sie – von vielen schon vergessen – 2012 den Friedensnobelpreis bekommen hat. Der neu gewählte US-Präsident Donald Trump ist dabei, durch seine Zollpolitik den internationalen Freihandel zu zerstören und damit die bisher erreichten Wohlstandsgewinne der Globalisierung zunichtezumachen. Die Hilfsorganisation USAID, einer der wichtigsten Akteure in der weltweiten Armutsbekämpfung, wird aufgelöst. Grundlegende Prinzipien der Gewaltenteilung werden missachtet und die Menschenrechte von Migrantinnen und Migranten oder Transmenschen spielen für Trump keine Rolle.
Dies sind nur wenige Hinweise auf die gegenwärtige, sehr beunruhigende Entwicklung, die bei vielen zu dem Eindruck führt, dass offenbar „Werte“ in der internationalen Politik kaum mehr eine Rolle spielen. Wobei die allgemeine Rede von „Werten“ die Sache nicht ganz trifft. Denn mit der Forderung, Amerika wieder „groß zu machen“, und der Idee einer wiederherzustellenden „russischen Welt“ berufen sich sowohl Trump als auch Putin durchaus auf „Werte“, lassen jedoch bestehende Verträge, weltweite Gerechtigkeit und Weltgemeinwohl außer Acht. Es sind eben bestimmte moralische Werte, die in Gefahr sind und von denen man seit dem Ende des Ost-West-Gegensatzes denken konnte, dass sie auch auf internationaler Ebene wichtig geworden seien: die Prinzipien internationaler Kooperation und des Völkerrechts, die Menschenrechte, der Friede und die gemeinsame Sorge um globale Gemeingüter wie ein stabiles Klima, das die Menschheit braucht, um auf diesem Planeten weiterhin leben zu können. Auch die wachsenden Risiken wissenschaftlicher Fortschritte, z.B. der Künstlichen Intelligenz und der Gentechnik, sowie der drohende Rüstungswettlauf, der Ressourcen verschwendet, die dringend zur Lösung aktueller Menschheitsprobleme gebraucht würden, sind nur gemeinsam einzudämmen.
Sowohl der klassische politikwissenschaftliche Realismus in der Analyse der internationalen Beziehungen als auch der in dessen Tradition stehende Neorealismus gehen davon aus, dass die Staaten sich bei der Gestaltung ihrer Beziehungen zu anderen Staaten vorrangig von Sicherheits- und Machtinteressen leiten lassen, also rein nach egoistischen Motiven handeln. Unter diesen untergeordnet spielen selbstverständlich auch ökonomische Interessen eine Rolle. Die Berufung auf Werte hat dann allenfalls die Funktion, dieses egoistische Streben zu legitimieren oder zu verschleiern. Weil überstaatliche Instanzen wie beispielsweise die UNO schwach sind, da sie vor allem gegenüber den eigenen mächtigeren Mitgliedern nicht über eine effektive Durchsetzungsmacht verfügen, sind letztlich alle Staaten zur Sicherung des eigenen Überlebens auf sich selbst und die von ihnen zum Selbstschutz aufgebauten Bündnisse angewiesen. Da sich die USA derzeit offenbar aus ihren Bündnisverpflichtungen in der NATO und anderen wichtigen übernationalen Organisationen zurückzuziehen drohen, kommt das internationale Machtgefüge dramatisch ins Wanken.
Die genannten realistischen Positionen gehen davon aus, dass die Staaten rational im Sinne effizienter Zweck-Mittel-Relationen handeln. In vielen Bereichen, beispielsweise immer im Falle öffentlicher Güter, kann gezeigt werden, dass es durchaus für alle Beteiligten rational ist, sich auf Verträge zu einigen, die zwar die Freiheiten der Beteiligten in einem gewissen Maße einschränken, letztlich aber zu einem für alle besseren Ergebnis führen. Schon Thomas Hobbes hat erkannt, dass der Krieg aller gegen alle letztlich nur Nachteile mit sich bringt. Auf diese Weise kommen die moraltheoretischen Ansätze des Kontraktualismus zu einer Begründung von moralischen und rechtlichen Regeln, wofür gar keine besondere Bereitschaft zum moralischen Handeln, sondern eben nur die rationale Verfolgung der je eigenen Interessen vorausgesetzt werden muss. Große Teile der Rechtssysteme der Staaten, aber auch große Teile des Völkerrechts lassen sich auf diese Weise als rational und sinnvoll ausweisen. Auf Grund von Machtasymmetrien in der Ausgangssituation kann es freilich zu Verträgen kommen, die zwar für alle Beteiligten eine win-win-Situation darstellen, deren Vorteile jedoch sehr ungleich verteilt sind oder die zu Lasten Dritter geschlossen werden, weshalb solche Verträge als unfair empfunden werden.
Es darf jedoch nicht übersehen werden – und das könnte ein Grund zu einer gewissen Hoffnung sein –, dass Vertragsabschlüssen normalerweise Verhandlungen vorausgehen, die voraussetzungsvollen Bedingungen genügen müssen und dadurch eine aus moralischer Sicht interessante Dynamik auslösen können: Die Verhandlungspartner müssen versuchen, sowohl an der Sache als auch an den Personen orientiert zu sein, einander und die jeweils vorgeschlagenen Lösungen zu verstehen, wozu sie sich auch ineinander hineinversetzen müssen. Sie müssen Vertrauen in die Einigungsabsichten und Vertragstreue des anderen entwickeln. Das ist im Grunde nur möglich, wenn wechselseitig deutlich wird, dass niemand den anderen hintergehen wird. So entstehen während des Verhandelns schon bestimmte Bindungen an kommunikative Werte. Der Wirtschaftsethiker Birger Priddat hat darauf hingewiesen, dass in solchen Prozessen Aspekte der Fairness an Bedeutung gewinnen, um das Scheitern der Verhandlung unwahrscheinlicher zu machen.[1] Ähnliches betont Dirk Messner, lange Jahre Direktor des Deutschen Instituts für Entwicklungspolitik und seit 2020 Präsident des Umweltbundesamtes: „Aus der Kooperationsforschung sind die zentralen Mechanismen bekannt, um Kooperationsbeziehungen zu entwickeln und dann zu stabilisieren: Reziprozität, Vertrauen, dichte Kommunikationsbeziehungen, Reputation, Fairness, Instrumente zur Unterstützung regelkonformen Verhaltens und zur Sanktionierung von Free-Rider-Strategien (Trittbrettfahrer), Wir-Identitäten und gemeinsame Narrative. In Räumen und Akteurs-Konstellationen, in denen diese Mechanismen stark ausgeprägt sind, steigen die Chancen, Machtspiele in Kooperationsbeziehungen einhegen zu können und die Wahrscheinlichkeit dafür, Strategien gemeinsamer Problemlösung gegen enge Einzelinteressen durchsetzen zu können.“[2]
Was aber, wenn die beteiligten Akteure gar nicht rational handeln? Oder genauer: nicht rational im Blick auf das Wohl ihrer Länder, möglicherweise aber rational hinsichtlich des eigenen Machterhalts? Es gibt kaum Gründe anzunehmen, dass es Putin oder Netanjahu wirklich um das Wohl ihrer Länder geht. Sehr wohl aber scheint ihr oberstes Ziel die Stabilisierung ihres autoritären Herrschaftssystems bzw. des eigenen Machterhalts zu sein. Bei Trump ist man sich nicht einmal sicher, dass sein erratisches Handeln im langfristigen Interesse seines eigenen Machterhalts liegt. Unter solchen Bedingungen kann man dann kaum mehr erwarten, dass es zu fairen Regelungen kommt oder dass vereinbarte Regeln auch eingehalten werden. Die Verdrehung von Tatsachen, die notorischen Lügen und die Verachtung der genannten Politiker für das Völkerrecht und die Verfassung bzw. die Gewaltenteilung in ihren Ländern lässt Schlimmes befürchten.
Was kann dann noch helfen? Zu meiner Überraschung hat der Wirtschafts- und Finanzmarktexperte der ARD, Markus Gürne, in der Sendung „Wirtschaft vor acht“ am 2.4.25 angesichts des von Trump losgetretenen Handelskonflikts, der Züge eines Handelskrieges trage, mit den Worten geschlossen: „Hoffen wir auf mehr Menschen guten Willens!“ In der Tat, es braucht die Bildung von Gegenmacht aus der Zivilgesellschaft, der Wissenschaft, den Wirtschaftsunternehmen, den Gewerkschaften, den demokratischen Parteien, den Wohlfahrtsorganisationen und internationalen Entwicklungshilfeorganisationen, den Kirchen, wenn man so will, eine „Koalition der Menschen guten Willens“. Die Bürgerinnen und Bürger sind es letztlich, die die politisch Verantwortlichen zu einem an moralischen Werten orientierten Handeln zwingen müssen. Wenn man sich von der systematischen Verzerrung der Wirklichkeit durch die Medien, die viel mehr über Probleme, Konflikte, Scheitern und Katastrophen berichten als über positive Phänomene („Only bad news are good news“), nicht zu sehr beeindrucken lässt, dann kann man durchaus sehen, dass es viele Menschen und Organisationen gibt, die sich weiterhin für eine bessere internationale Kooperation, die Bekämpfung des Klimawandels, die Einhaltung von Menschenrechten, allgemein eine faire Lösung der gegenwärtigen Menschheitsprobleme einsetzen. Wenn man etwas intensiver nach ihnen sucht, ist man überrascht, wie viele Initiativen es gibt, die leider zu wenig bekannt sind. Manche von ihnen widmen sich speziell der nötigen Wertorientierung in den internationalen Beziehungen. Ich kann nur auf wenige hinweisen, z.B. auf den von Andrew Carnegie 1914 gegründeten Carnegie Council for Ethics in International Affairs (https://www.carnegiecouncil.org/). Kanada und die Niederlande finanzieren das wichtige, auf Aktivitäten im Globalen Süden ausgerichtete Climate and Development Knowledge Network (CDKN) (https://cdkn.org/). Die oben skizzierte, auf Fairness ausgerichtete Dynamik von Verhandlungen wird offenbar im Cartagena-Dialog fruchtbar, einem informellen Rahmen, in dem Delegationen aus dem globalen Norden und dem globalen Süden Möglichkeiten der Verständigung bei Klimaverhandlungen erkunden. Auch der Ethik-Codex für UN-Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter entspricht ganz dem oben über die Ethik von Verhandlungen Gesagten (https://hr.un.org/page/un-values-and-behaviours-framework-0). Moralische Werte spielen in internationalen Beziehungen also sehr wohl noch eine Rolle. Ob sie freilich stark genug vertreten werden, um ein Gegengewicht gegen die Kräfte der Zerstörung zu bilden, muss die Zukunft erst noch zeigen.
[1] So in Priddat, Birger P. (2012): Ökonomische Gerechtigkeit? Verträge als prozessuale Fairness. In: Viktor J. Vanberg (Hg.): Marktwirtschaft und soziale Gerechtigkeit. Gestaltungsfragen der Wirtschaftsordnung in einer demokratischen Gesellschaft. Tübingen: Mohr Siebeck, S. 131–153.
[2] Messner, Dirk (2016): Globale Kooperation oder globale Unordnung. Der Kampf zwischen Weltbürgern und den Nationalisten des 21. Jahrhunderts. In: Roland Bernecker und Ronald Grätz (Hg.): Global Citizenship. Perspektiven einer Weltgemeinschaft. Steidl, S. 132–140, hier 140.