Hamburg - 22.07.2024

Plädoyer für einen neuen „Transatlantic Bargain“

Dr. Karl-Heinz Kamp war Forschungsdirektor am NATO Defense College in Rom, Präsident der Bundesakademie für Sicherheitspolitik und zuletzt Politischer Beauftragter im Bundesministerium der Verteidigung.

Kurz nachdem die NATO ihr 75jähriges Bestehen als erfolgreichstes politisch-militärisches Bündnis der Geschichte gefeiert hat, ziehen düstere Wolken am Himmel der transatlantischen Sicherheitsbeziehungen auf. Die Vereinigten Staaten als Bündnisvormacht und bisheriger Garant der europäischen Sicherheit steuern politisch unruhigen Zeiten entgegen. Das Land hat im Herbst die Wahl zwischen dem amtierenden Präsidenten Joe Biden, dessen Vergreisung immer offensichtlicher wird, und dem Herausforderer Donald Trump, der bereits gezeigt hat, dass ihm die intellektuellen Fähigkeiten, die charakterliche Eignung und der Wille fehlen, verantwortliche weltpolitische Führung zu zeigen.

Pessimisten haben schon jetzt ernste Sorge um den Fortbestand der NATO und verweisen darauf, dass ein Präsident Trump seine zweite Amtszeit mit einem professionelleren Team starten würde, um dem transatlantischen Verhältnis schweren Schaden zuzufügen. Optimisten hoffen, dass auch die westlichen Verbündeten aus den Erfahrungen mit „Trump I“ gelernt haben und auf diesen unberechenbaren Präsidenten besser vorbereitet sind.

Allerdings greift der Fokus auf ein Duell zwischen Trump und Biden zu kurz. Die weltpolitischen Veränderungen, die sich aus dem Angriffskrieg Russlands und dem Aufstieg Chinas als gegnerische Macht im Indo-Pazifik ergeben, sind so fundamental, dass sie auch die Grundlagen der transatlantischen Beziehungen berühren und einen neuen Ansatz erfordern, ganz gleich, wer im Weißen Haus regiert.

Die Sicherheit Europas war stets von einer stabilen transatlantischen Partnerschaft, also der engen Verbindung von Europa und Nordamerika, abhängig. Am Anfang dieser Partnerschaft stand das, was der ehemalige amerikanische NATO-Botschafter Harlan Cleveland den „Transatlantic Bargain“ nannte, also die teils stillschweigende teils ausgesprochene Vereinbarung zwischen den Vereinigten Staaten als Führungsmacht und den europäischen Verbündeten, in der sich die USA zum dauerhaften Schutz und zum Wiederaufbau des vom Krieg zerstörten Westeuropa verpflichteten. Dabei sollten die amerikanischen militärischen Fähigkeiten nicht nur Sicherheit vor der Gefahr durch die Sowjetunion bieten. Sie gewährleisteten auch, dass die Europäer einen großen Teil ihrer Budgets für ihre wirtschaftliche Erholung verwenden konnten, statt in große Armeen zu investieren, mit denen sie sich – wie in der Vergangenheit – wieder gegenseitig hätten bedrohen können. Umgekehrt erwartete Washington von den europäischen Bündnispartnern, dass sie die transatlantische Gemeinschaft und vor allem die NATO als ein Wertebündnis demokratischer Staaten verstehen, die Politik der USA als Führungsmacht dieser Gemeinschaft weitgehend unterstützen und, so weit möglich, eigene Verteidigungslasten übernehmen. Damit bildete dieser Transatlantic Bargain den sicherheitspolitischen Kern des politischen „Westens“ - also der Verbindung von Freiheit, Demokratie, Liberalismus und Marktwirtschaft.

Das amerikanische Engagement in Europa war somit nie altruistisch, sondern stets von nationalen Interessen bestimmt, gewannen die USA dadurch doch einen maßgeblichen politischen Einfluss auf eine der weltweit stärksten Wirtschaftsregionen, der wiederum für die amerikanische Rolle als globale Supermacht unabdingbar war. Die USA waren deshalb, obgleich durch den Atlantischen Ozean getrennt, stets eine europäische Macht.

Nach dem Fall der Berliner Mauer 1989 wurde dieser „Westen“ und damit auch der Transatlantic Bargain auf weite Teile Osteuropas ausgedehnt, die sowohl in die NATO als auch in die EU aufgenommen wurden. Allerdings verstärkte sich in den USA zunehmend der Eindruck, dass die Europäer in einem wichtigen Aspekt den transatlantischen „Deal“ nicht erfüllen, nämlich das, was in Artikel 3 des Washingtoner Vertrages der NATO festgehalten ist: die Bereitschaft „…die eigene und die gemeinsame Widerstandskraft gegen bewaffnete Angriffe (zu) erhalten und fort(zu)entwickeln.“ Die Europäer, so die Wahrnehmung in Washington, verließen sich immer mehr auf den Schutz der USA und gewannen sogar wirtschaftliche Vorteile, weil sie weniger Ressourcen in die eigene Verteidigung investieren mussten. Auf diesen Umstand haben amerikanische Regierungen in der Vergangenheit immer wieder hingewiesen. Insofern unterscheidet sich die Brutalität der Forderungen Präsident Trumps nur im Ton von dem, was frühere Präsidenten stets gefordert hatten: eine gerechtere Lastenteilung im Bündnis.

Heute, mit einem revanchistischen Russland in Europa und einem autokratisch-aggressiven China in Asien stellt sich die Frage des Verhältnisses von europäischer und transatlantischer Sicherheit neu. Russlands Angriff auf der Ukraine bedeutet deshalb nicht eine Wiederholung der bipolaren Konfrontation des Kalten Krieges und führt somit nicht zu einem „Ost-West-Konflikt 2.0“. Stattdessen kommt mit China eine weitere Gefährdung hinzu, der sich die transatlantische Gemeinschaft widmen muss. Folglich muss in den kommenden Jahren ein neuer Transatlantic Bargain ausgehandelt werden, der nicht nur eine europäische Aufgabe hat (Schutz vor Russland), sondern auch eine asiatisch-pazifische Dimension (Schutz vor China).

Angesichts der unterschiedlichen Interessenlagen und Sichtweisen auf beiden Seiten des Atlantiks sind heftige Auseinandersetzungen in diesen Fragen geradezu vorprogrammiert. Jeder künftige Präsident in Washington wird ein Engagement der NATO in einer kommenden Auseinandersetzung mit einem aggressiven China fordern und zu Recht darauf verweisen, dass nahezu alle NATO-Mitglieder vitale Interessen im asiatisch-pazifischen Raum verfolgen. Die Europäer dürften im Gegenzug stets darauf bestehen, dass die NATO „North Atlantic“ in ihrem Namen trägt und damit kein pazifisches oder gar globales Sicherheitsbündnis sein kann.

Wie kann dieser Streit entschärft und in eine konstruktive Debatte über einen neuen, dreidimensionalen (Europa-USA-Asien) Bargain überführt werden? Ganz sicher nicht, indem die europäischen NATO-Partner weiter ihre Bereitschaft betonen, künftig zwei Prozent ihres Brutto-Inlandsprodukts für Verteidigung auszugeben. Damit wird man keinen amerikanischen Präsidenten mehr – ob Trump oder jemand anderen – vom Nutzen der NATO überzeugen können, zumal immer noch auch wohlhabende NATO-Mitglieder wie Kanada, Italien oder Spanien weit von dieser Verpflichtung entfernt sind. Es ist nämlich schon jetzt absehbar, dass selbst diese zwei Prozent künftig nicht ausreichen werden, um die verteidigungspolitischen Versäumnisse der Vergangenheit wieder auszugleichen. Polen nähert sich mit seinen Verteidigungsausgaben schon jetzt der vier-Prozent-Marke.

Es wird auch nicht mehr helfen, weiter gebetsmühlenartig die Bemühungen der Europäischen Union zu einer gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik hervorzuheben. Diese Ideen, stets mit ambitionierten Begriffen wie „Europa Armee“ oder „Europäische Verteidigungsunion“ versehen, sind endgültig gescheitert – vor allem, weil keines der EU-Mitglieder bereit war, die dafür erforderlichen Ressourcen bereitzustellen. Selbst Frankreich, das immer noch eine militärisch „autonome“ EU anstrebt, macht da keine Ausnahme.

Mit dem Ausbruch des Ukraine-Krieges wurden die Vorstellungen von einer militärisch autonomen beziehungsweise souveränen EU erst recht Makulatur, schlicht weil gerade die osteuropäischen EU-Mitglieder sie nicht teilten. Diese Staaten fragten völlig berechtigt, wo die EU und die Ukraine im aktuellen Konflikt mit Russland ohne die militärische Unterstützung der USA geblieben wären. Was hätte die EU ohne die USA und ohne die NATO denn getan, um eine mögliche Aggression Moskaus gegen Polen oder die Baltischen Staaten zu verhindern? Wie hätte man denn eine glaubhafte nukleare Abschreckung gegenüber Russland ohne die USA (und ohne Großbritannien) erreichen können?

Will also Europa von den USA weiter als transatlantischer Partner im Kampf gegen gemeinsame sicherheitspolitische Gefahren ernstgenommen werden, so sind zwei Schritte vordringlich. Zum einen müssen die europäischen NATO-Mitglieder mehr militärische Verantwortung in ihrer unmittelbaren Nachbarschaft übernehmen, um amerikanische Streitkräfte zu entlasten und für mögliche Aufgaben im asiatisch-pazifischen Raum freizustellen. Das reicht von kleinen Maßnahmen, wie den etwa 600 Soldaten, die die USA immer noch im Kosovo belassen haben und die von Europa ersetzt werden könnten, bis hin zu grundsätzlichen Fragen, ob die USA immer noch Flugzeugträger-Gruppen im Mittelmeer stationieren müssen, obwohl Europa über eigene Trägergruppen verfügt.

Zum anderen wird Europa sich darauf einstellen müssen, dass die USA ihr militärisches Engagement in Europa vermindern werden, um ausreichend Kräfte für mögliche Konflikte im asiatisch-pazifischen Raum zu haben. Dies könnte als konfrontativer Akt unter einem künftigen Präsidenten Donald Trump geschehen und würde damit der NATO und den transatlantischen Sicherheitsbeziehungen erheblichen Schaden zufügen. Er wäre aber auch als ein konsensual ausgehandelter Schritt hin zu einem neuen Transatlantic Bargain vorstellbar, in dem die USA europäische Sicherheitsinteressen auch in der Pazifikregion vertreten, während Europa die Wahrung seiner Sicherheit und territorialen Integrität selbst übernimmt.

In der Vergangenheit wurde allein die Möglichkeit, dass sich die USA aus Europa zurückziehen könnten, von den Europäern mit größter Sorge betrachtet. Zu sehr hatte man sich an die amerikanische Subventionierung der eigenen Sicherheit gewöhnt und die regelmäßig von den USA vorgebrachten Forderungen nach mehr Lastenteilung verhallten meist ungehört. Auch schien es unmöglich, dass Europa ohne die Militärmacht der USA einem aggressiven Russland als zweitgrößter Nuklearmacht würde standhalten können. Verschwiegen wurde dabei aber meist, dass die militärische Schwäche Europas der letzten Jahrzehnte ein selbst gewähltes Schicksal war, weil man nicht bereit gewesen ist, ausreichend eigene Mittel für die Landesverteidigung bereit zu stellen. Stattdessen gingen die Europäer – ob innerhalb oder außerhalb der EU – davon aus, dass die Vereinigten Staaten stets hinlängliche Sicherheitsinteressen in Europa haben würden, um weiter in der Region militärisch engagiert zu bleiben.

Diese Grundannahmen sind durch den Ukraine-Krieg in Frage gestellt worden. Eine Verteidigung Europas ohne die USA oder nur mit sehr begrenzter amerikanischer Unterstützung ist eine reale Option geworden, die sogar erfolgreich bewältigt werden könnte. Die Gründe hierfür liegen in zwei gegensätzlichen Entwicklungen: einerseits wird Russland als Folge des Krieges kontinuierlich schwächer, während andererseits Europas Militärmacht kontinuierlich steigt.

Die Schwächung Russlands schreitet mit jedem Kriegstag weiter fort. Was von Moskau als kurzer, nur wenige Wochen dauernder Eroberungsfeldzug gedacht war, hat sich zu einem zermürbenden Stellungskrieg entwickelt, in dessen Folge Moskau den größten Teil seiner modernen Waffen verloren hat. Zwar verfügt Russland über große Mengen an altem Kriegsgerät und kann auch Munition ausreichend produzieren oder beschaffen, es kann damit aber keine entscheidenden Gewinne gegen die vom Westen unterstützte Ukraine erzielen. In den nunmehr zehn Jahren Krieg seit der illegalen Annexion der Krim 2014 hat Russland gerade einmal 19 Prozent ukrainischen Territoriums besetzen können.

Die Kosten des Krieges sind für Russland ebenfalls gewaltig und werden im Jahr 2025 vierzig Prozent der gesamten Staatsausgaben verschlingen. Auch steht Russland mit der NATO einer Allianz gegenüber, deren Bruttoinlandsprodukt mehr als zwanzigmal höher ist, als das Russlands – von den übrigen Unterstützern der Ukraine im Rahmen der G 7 ganz zu schweigen. Bislang gibt es keinerlei Anzeichen, dass die Unterstützer-Allianz der Ukraine, die derzeit 50 Staaten umfasst, in ihren Anstrengungen nachlassen würde. Nach dem Ende des Krieges – welches derzeit noch nicht abzusehen ist – wird Russland also nur noch einen Bruchteil seiner wirtschaftlichen und militärischen Stärke besitzen.

Parallel dazu ist die militärische Stärke der Europäer erheblich gewachsen. Nach Jahren der Vernachlässigung ihrer Streitkräfte haben die meisten Mitglieder von EU und NATO ihre Verteidigungsausgaben deutlich erhöht und ihre Streitkräfte verstärkt. Selbst Deutschland hat 2024 zum ersten Mal seit Jahrzehnten das zwei-Prozent-Ziel der NATO erreicht. Der Beitritt Finnlands und Schwedens stellt einen ganz erheblichen Fähigkeitsgewinn für die NATO dar und lässt die Ostsee aus der Sicht des Bündnisses zu einem „Mare Nostrum“ werden.

Eine weitere militärische Stärkung würde Europa erfahren, wenn die Ukraine in die NATO aufgenommen würde. Ein positiver Aspekt des ansonsten tragischen Krieges ist, dass die Ukraine heute über starke und kampferprobte Streitkräfte verfügt, die aufgrund der internationalen Unterstützung vergleichsweise gut ausgerüstet sind und oft in NATO-Staaten ausgebildet wurden. Würde man diese zu den im Aufbau befindlichen modernen europäischen Streitkräften hinzurechnen, wäre Europa Russland militärisch deutlich überlegen. In einem solchen Modell, das von einem stabilen transatlantischen Verhältnis und einem verbleibenden amerikanischen nuklearen Schutzschirm ausgeht, wäre Europa beziehungsweise der europäische Pfeiler in der NATO durchaus in der Lage, für seine eigene Sicherheit einzustehen.

Ob es gelingt, einen Präsidenten Trump von diesem neuen Bargain zu überzeugen, ist derzeit offen. In jedem Fall sollten die Europäer schon jetzt auf eine solche Neujustierung der transatlantischen Beziehungen hinarbeiten, weil die USA den eingeschlagenen Weg in Richtung Asien-Pazifik fortsetzen werden, ganz gleich, wie die Wahl im November ausgeht.