Hamburg - 05.09.2023

Militärische Resilienz und Innere Führung

Admiral Joachim Rühle ist seit 30. September 2020 Chef des Stabes des Supreme Headquarters Allied Powers Europe (SHAPE) in Mons.
Von 2017-2020 war er Stell­vertreter des Generalinspekteurs der Bundeswehr. Von 2014 bis 2017 hatte er die ­Leitung der Abteilung Personal im Bundesministerium der Verteidigung inne. Von 2012 bis 2014 leitete er die Abteilung Planung im Bundes­ministerium der Verteidigung und war in dieser Zeit auch mit der Führung der Abteilung Ausrüstung, ­Informationstechnik und Nutzung beauftragt.
Nach der Verwendung auf verschiedenen seegehenden Einheiten wurde er 2005 Kommandeur der Task Group SEF (Standard Einsatzausbildungsverband Flotte) und 2010 Director of Knowledge Management Directorate beim Allied Joint Force Command in Neapel.  

Zunächst möchte ich dem ZEBIS ganz herzlich danken, an dieser Stelle einige persönlich gehaltene Gedanken zu teilen. Ich unternehme dies weniger aus einer NATO-Perspektive, sondern lasse eher den Marineoffizier und Staatsbürger in Uniform zu Wort kommen. Doch dazu später mehr.

Resilienz steht gegenwärtig hoch im Kurs. Ein etablierter Begriff, der in der Psychologie, Medizin, Soziologie und Technik gemeinhin mit Anpassungs- und Widerstandsfähigkeit verbunden wird. „Bounce back – Wieder auf die Beine kommen“ ist eine wohl recht zutreffende Beschreibung.

Das Gegenstück ist die Verwundbarkeit und somit die individuelle oder systemische Unfähigkeit, schwerwiegende Veränderungen, Probleme oder Krisen zu verkraften und möglicherweise sogar an ihnen zu wachsen.
In den vergangenen Jahren wurde Resilienz immer häufiger auch auf die Zivilgesellschaft, den Staat und besonders seine Streitkräfte bezogen. Theorie und perfide Praxis der hybriden Kriegführung haben diesen Diskurs weiter beschleunigt, von einem wirklich einheitlichen Verständnis kann allerdings nicht die Rede sein.
Resilienz wird unter anderem verknüpft mit (dem Schutz) kritischer Infrastruktur, Cyber- und Energiesicherheit, Katastrophen, Risikomanagement und politischer Handlungs- und Entscheidungsfähigkeit in Extremsituationen.
Die Rolle von Streitkräften, ob nun im nationalen Kontext oder im Rahmen der NATO, ist regelmäßig Gegenstand der konzeptionellen Betrachtung oder leidenschaftlicher Debatten. 
Dabei ist der NATO Vertrag aus dem Jahre 1949 zunächst ein guter Ausgangspunkt. Im Artikel 3 heißt es: „Um die Ziele dieses Vertrages besser zu verwirklichen, werden die Parteien einzeln und gemeinsam durch ständige und wirksame Selbsthilfe und gegenseitige Unterstützung die eigene und die gemeinsame Widerstandsfähigkeit gegen bewaffnete Angriffe erhalten und fortentwickeln.“
Per se ist militärische Resilienz also kodifiziert und keine Neuentdeckung. Zahlreiche Publikationen existieren dazu bereits und ich werde daher diesen kurzen Aufsatz vielmehr nutzen, eine persönliche Sicht auf das Selbstverständnis und die Führungskultur der Bundeswehr zu richten: die Innere Führung. 
Aus einem einfach Grund: ihre vorgelebte Anwendung und ihr „Schutz“ sind maßgebliche Voraussetzung dafür, dass unsere Streitkräfte überhaupt selbst resilient sein und somit zu gesamtstaatlicher Resilienz erst beitragen können. Wenn man möchte, gehört die Innere Führung zur kritischen Infrastruktur der Bundeswehr.

Vier Grundpfeiler der Inneren Führung

Ich werde dies im Folgenden an vier Begriffen aufzeigen, die ich als ihre Grundpfeiler sehe und die gleichermaßen meine Erfahrungen aus mehr als vier Jahrzehnten Dienst als Offizier wiederspiegeln:

  1. Entscheidungsfreude,
  2. Verantwortung,
  3. Motivation,
  4. Gewissen.

Die Innere Führung verfolgt das Ziel, die Funktionsbedingungen einsatzbereiter Streitkräfte mit den freiheitlichen Prinzipien eines demokratischen Rechtsstaates in Einklang zu bringen. 
Sie bindet das Individuum und die Organisation an Werte. Sie ermöglicht, aber sie setzt auch Grenzen. Sie bestimmt maßgeblich, wie wir in den Streitkräften miteinander umgehen.  Sie ist dabei weder Monstranz, noch entrückte Ikone. 
Auch wenn die Bundeswehr seit ihrer Gründung einem stetigen, vielfältigen und notwendigen Wandel ausgesetzt ist, so bleibt doch der Wesenskern der Inneren Führung unberührt. Ich bin davon überzeugt, dass die herausragenden Leistungen der Truppe, auch und ganz besonders in existenziellen Auseinandersetzungen in Krisen- und Kriegsgebieten, sich darauf stützen. Der russische Angriffskrieg in der Ukraine und seine Auswirkungen führen die Konsequenzen am „scharfen Ende“ unseres Berufes mit brutaler Eindringlichkeit vor Augen.

Entscheidungsfreude

Resilienz in Extremsituationen erfordert Entscheidungsfreude!  
Entscheiden unter Zeitdruck, unter Belastung und Stress, im oft zitierten Nebel des Ungewissen und ohne Garantie auf Erfolg. Passivität ist nicht gefragt. Militärische Führung bedeutet Abwägen und im richtigen Moment eine Entscheidung zu treffen. Das gilt auf allen Ebenen. Auswahl und Ausbildung unseres Führungspersonals müssen auch weiterhin darauf abzielen, genau diese Eigenschaft zu fördern und absicherndes Zaudern im Keim zu ersticken. Es wird dabei selten den „perfekten“ Entschluss geben. Das ist allerdings auch nicht der springende Punkt, denn angemessene Reduktion von Komplexität, hohe Dynamik in der konkreten Situation und fragmentierte Informationen lassen oft gar nichts anderes zu. 
Moltke hat recht: „Unterlassen und Versäumnis können schwerer wiegen als ein Fehlgreifen in der Wahl der Mittel.“

Verantwortung

Resilienz erfordert Delegieren von Verantwortung!
Die oben genannte Entscheidungsfreude kann sich nur dann entfalten, wenn Verantwortung auf die richtige Ebene übertragen und dort auch wahrgenommen wird. Militärische Führer brauchen das Vertrauen ihrer Vorgesetzten und den notwendigen Handlungsspielraum. Es geht um die konsequente Anwendung des Führens mit Auftrag.
Verantwortung darf nicht in Organigrammen, gutgemeinten Prozessen, zerstreuten Zuständigkeiten und durch Eitelkeiten diffundieren. Auftragstaktik ist kein Selbstläufer. Sie lebt weder von der Theoretisierung, noch vom gebetsmühlenartigen Wiederholen ihrer Prinzipien.
Sie muss vorgelebt und eingefordert werden. Unsere Soldatinnen und Soldaten müssen spüren und wissen, dass wir ihnen vertrauen, dass wir uns auf sie verlassen und eine souveräne Fehlerkultur kein Ausdruck von gutgemeinter Fürsorge ist, sondern elementarer Bestandteil effektiver und moderner Führung.
Ich appelliere an alle militärischen Leser dieser Zeilen, eigenes Handeln immer wieder daran zu messen.

Motivation

Resilienz erfordert Motivation durch Integration in Staat und Gesellschaft!
Der Einsatzwert von Streitkräften, nennen wir ihn an dieser Stelle ruhig Gefechtswert, ergibt sich im Wesentlichen aus Stärke, Ausrüstung, Ausbildung und Motivation. Soldatische Motivation wird von zahlreichen Faktoren geprägt, die sich im weiten Feld zwischen spezifischem Gruppenzusammenhalt („Kameradschaft und Korpsgeist“), Menschenführung und Legitimität der Zielsetzung eines Einsatzes bewegen. Die Missionen und Einsätze der Bundeswehr und der Bündnisfall der NATO stellen dabei unterschiedliche Pole ein und derselben Legitimität dar.
Ein Aspekt dieser intrinsischen Motivation ist die Integration der Soldatinnen und Soldaten in die Gesellschaft und die der Streitkräfte insgesamt in das staatliche „Gesamtsystem“. Ich verstehe Integration hier nicht nur aus einer nüchtern funktionalen, sondern ebenso aus einer emotionalen Sicht. Individuelle Widerstandsfähigkeit, Ertragen von Härten und das eingangs erwähnte „Wieder auf die Beine kommen“ nach oder in Extremsituationen sind auch eine Frage der ehrlichen Rückkoppelung zwischen Gemeinwesen und Bundeswehr.
Der kritische, aber dennoch angemessen selbstbewusste Umgang mit militärischer Tradition und zeitgemäßer Symbolik gehört dazu. Auch er bestimmt den „Geist der Truppe“.

Gewissen

Resilienz und Gewissen sind zwei Seiten einer Medaille!
Die Innere Führung bildet das ethische Fundament soldatischen Handelns und unseres Selbstverständnisses. Sie setzt dem Prinzip von Befehl und Gehorsam Grenzen.
Doch jenseits dessen gilt für unsere Soldatinnen und Soldaten: das Gewissen jeder und jedes Einzelnen ist die letzte moralische Instanz. Ethik und Verantwortung kalibrieren den Kompass des Gewissens, aber am Ende des Tages ist es eine individuelle Entscheidung.
Das Wissen um diese letzte moralische Instanz ist einer der wesentlichen Pfeiler resilienter und demokratischer Streitkräfte, die Recht, Freiheit und (nicht nur unsere) staatliche Souveränität schützen und zur Achtung der Menschenrechte beitragen. 
Man kann nur das verteidigen und bewahren, was man in sich trägt. Das gilt für das Individuum und die Organisation.

Fazit

Resilienz ist mehr als ein Modell, mehr als eine bloße, mithin abstrakte Forderung. Für mich ist sie in ihrer soldatischen Interpretation und Anwendung untrennbar mit den nicht verhandelbaren Pfeilern der Inneren Führung verbunden.
Resilienz und Innere Führung bedingen, tragen, nähren sich gegenseitig.
Die Bundeswehr beginnt ihren Auftrag oft erst dann zu erfüllen, wenn andere nicht mehr können. Die Truppe setzt ihre Soldatinnen und Soldaten Situationen aus, die über das hinausgehen, was gemeinhin als „Norm“ anerkannt wird. Die Einsätze und Hilfeleistungen im Inland und Ausland sprechen dafür beredt Bände. Das Gefecht als „linke Grenze“, die Unterstützung bei Naturkatastrophen als „rechte Grenze“.
Resilient zu sein und Resilienz zu geben ist für unsere Streitkräfte Selbstbestimmung und Selbstvergewisserung. Entscheidungsfreude, Verantwortung, Motivation, Gewissen: darauf kommt es an. 

Ich schließe mit Theodor Storm, der es durchaus zugespitzt und in der Sprache seiner Zeit treffend auf den Punkt bringt: „Der eine fragt: Was kommt danach? Der andere fragt nur: Ist es recht? Und also unterscheidet sich der Freie von dem Knecht.“