Prof. Dr. Markus Vogt (geb. 1962) ist Ordinarius für Christliche Sozialethik an der katholisch-theologischen Fakultät der Ludwig-Maximilians-Universität München. Er studierte katholische Theologie und Philosophie in München, Jerusalem und Luzern. 2007 übernahm er den Lehrstuhl für Christliche Sozialethik an der LMU. Markus Vogt ist Mitglied des wissenschaftlichen Beirats des Instituts für Theologie und Frieden sowie des Zentrums für ethische Bildung in den Streitkräften. Seit 2019 ist er Mitglied der Europäischen Akademie der Wissenschaften und Künste.
Bereits in einem Aufsatz von 1993 und dann 1996 in der Monografie “The Clash of Civilizations and the Remaking of World Order”[1] hat der amerikanische Politikwissenschaftler Samuel Huntington prognostiziert, dass die Kriege des 21. Jahrhunderts Identitätskonflikte sein werden. Nicht mehr der ideologische Gegensatz zwischen Kommunismus und Kapitalismus und auch nicht das „Ende der Geschichte“[2], sondern Bruchlinienkonflikte zwischen unterschiedlichen Kulturräumen seien zentraler Ausgangspunkt für die multipolare Neuordnung der Welt.
Huntingtons These enthält wichtige Hinweise, um die veränderte Grammatik der globalen Konflikte im 21. Jahrhundert zu verstehen. Zugleich basieren sie auf einigen Fehleinschätzungen, die sie jedoch – und das ist meine These – keineswegs unwirksam machen. Sie beschreiben eine suggestive Deutung von Konflikten, die eine brisante Eigendynamik bewirkt. Gerade durch die Mischung hellsichtiger und falscher Elemente ist sie ethisch-politisch so brisant:
Das Fatale ist, dass das Narrativ der Identitätskonflikte und damit auch das der Russischen Welt, deren kulturelle Werte gegen die Dominanz des imperialen Westens verteidigt werden müssten, keineswegs erfolglos ist. Es wurde längst zu einem entscheidenden Faktor für die Akzeptanz der russischen Position, sowohl innerhalb des Staates wie bei nicht wenigen Staaten weltweit.
Dabei spielt auch der Faktor Religion – um den es ja bei unserer Tagung in besonderer Weise geht – eine zentrale Rolle: Religion wird instrumentalisiert für nationale Identitätskonstruktionen.[7] Für Patriarch Kyrill ist der Krieg gegen die Ukraine ein Heiliger Krieg zur Verteidigung orthodoxer Werte und Lebensformen gegen den vermeintlich dekadenten und imperialen Westen.[8] Er legitimiert den Krieg als „metaphysischen Kampf“. Ohne diesen religiösen Hintergrund würde die Erzählung der Verteidigung der russischen Welt nicht aufgehen. Es ist schwer zu entscheiden, ob Präsident Putin diese religiöse Erzählung nur instrumentalisiert oder selbst glaubt. Vermutlich schließt sich beides nicht aus und in ihm verfestigt sich zunehmend ein historisch-religiöses Sendungsbewusstsein[9]. Handfeste Machtinteressen werden in einen religiös-kulturellen Konflikt umgedeutet, dadurch legitimiert, geglaubt und strategisch ausgerichtet. Durch die gezielte Zerstörung von Kirchen und Museen in der Ukraine soll deren religiöse und kulturelle Identität ausgelöscht werden.[10] Das Recht auf eigene Identität wird ihr abgesprochen.
Zum Gedenktag der Opfer des Nationalsozialismus am 29. Januar 2025 sagte Roman Schwarzman aus Odessa im deutschen Bundestag: „Damals wollte mich Hitler töten, weil ich Jude bin, heute will mich Putin töten, weil ich Ukrainer bin. Er will uns als Nation vernichten.“ Das Gedenken wirkt heute verstörend aktuell. Es ging und geht darum, eine Identität auszulöschen. Auch im Nahen Osten ist der Konflikt deshalb so unversöhnlich, weil sich Hamas, Hisbollah und der Iran dem Ziel verschrieben haben, die Existenz Israels auszulöschen, und die gegenwärtige Regierungspolitik unter Netanjahu unter starkem Einfluss der orthodoxen Juden im Gegenzug das Existenzrecht und die Identität Palästinas nicht anerkennt.[11]
Identitätskonflikte sind in der Regel religiös unterlegt. Dabei sind die Religionen jedoch meist nicht primäre Ursache von Krieg und Gewalt, sondern Eskalationsfaktor: Sie treten sekundär zu Macht- und Interessenkonflikten hinzu, dienen dazu, sie in Identitätskonflikte umzudeuten und dadurch einer veränderten Grammatik zu unterwerfen: Religiös-kulturelle Konflikte sind im Unterschied zu Interessenkonflikten nur eingeschränkt verhandelbar.[12] Das gleiche Muster zeigt sich auch im Nahen Osten: Indem die vielfältigen Macht- und Interessenkonflikte in einen religiös-identitären Konflikt umgedeutet und durch ihn überlagert werden, scheinen Verhandlungen unmöglich. Im russisch-ukrainischen Krieg ist unklar, worüber man zielführend verhandeln kann, wenn der Ukraine das kulturelle Existenzrecht abgesprochen wird. Die religiös-kulturelle Umdeutung des Konfliktes wird zur self fulfilling prophecy: Sie ist eine Deutung, die die Möglichkeiten friedlicher und fruchtbarer Koexistenz verkennt und dadurch zur Ursache unversöhnbarer Konflikte wird.
Die Religionen haben, – so eine Leitthese von Papst Franziskus in seiner Friedensenzyklika „Fratelli tutti“ aus dem Jahr 2020 – eine Mitschuld, wenn sie sich nicht entschlossen dagegen wehren, als Kriegslegitimation missbraucht zu werden. Sie haben die Aufgabe, aktiv den kultur-, religions- und konfessionsübergreifenden Dialog als „Handwerk des Friedens“ anzustreben. Papst Franziskus hat dabei primär den Dialog mit dem Islam vor Augen. In Bezug auf den Dialog zwischen Katholizismus und Orthodoxie ist er – wie insbesondere Regina Elsner hervorhebt – einseitig auf die Russisch-Orthodoxe Kirche fixiert.[13] Es ist ein mühsamer Lernprozess, angemessen wahrzunehmen, wie vielfältig die orthodoxen, teilweise autokephalen Kirchen sind.
Gegenwärtig tobt ein Machtkampf zwischen der ROK und den anderen orthodoxen Kirchen, die Patriarch Bartholomäus von Istanbul als traditionelles „Erster unter Gleichen“ anerkennen. Er drückt sich auch in der entstehenden orthodoxen Soziallehre aus, die bisher drei zentrale Dokumente veröffentlicht hat, die sich auf charakteristische Weise durch eine abweichende Bewertung von Menschenrechten, Demokratie und moderner Gesellschaft unterscheiden: Die von Patriarch Kyrill in den Jahren 2000 und 2008 verantworteten Dokumente bewerten diese negativ (zugespitzt in seiner zunehmend anti-westlich profilierten Deutung), das von Bartholomäus verantwortete Dokument aus dem Jahr 2020 bewertet diese im Kern positiv. Diese Differenz ist entscheidend dafür, ob das europäische Kultur- Zivilisations- und Gesellschaftsmodell als Bedrohung oder als Chance gesehen wird.
Innerhalb der Orthodoxie bahnt sich eine Spaltung an, die eine mit der im Westchristentum des 16. Jahrhunderts durch die Reformation ausgelösten Spaltung vergleichbare Dynamik entwickeln könnte. Ein sozialethischer, auf das Verhältnis von Religion und Moderne fokussierter Dialog innerhalb der Orthodoxie sowie zwischen dieser und der Katholischen sowie den Protestantischen Kirchen wäre m.E. ein unschätzbarer Friedensdienst. Die Spaltung zwischen West- und Ostkirchen, die kirchengeschichtlich nun schon 1000 Jahre andauert, hat zu Entfremdungen geführt, die sich im gegenwärtigen Krieg zwischen Russland und der Ukraine als Sprachunfähigkeit äußern und so zum Eskalationsfaktor geworden sind.
In einem Forschungsprojekt mit dem Auswärtigen Amt zu Toleranz an den Grenzen Europas habe ich zusammen mit meinem Team am Lehrstuhl für Christliche Sozialethik das Konzept der „proaktiven Toleranz“ formuliert: Im Unterschied zu passiver Toleranz der Eskalationsvermeidung durch Duldung und im Unterschied zum UN-Konzept der aktiven Toleranz durch formale Regeln des Streites, eröffnet es proaktiv, also bevor der Konflikt eskaliert, Räume der Begegnung und des vertrauensbildenden Dialogs. Der Umstand, dass wir an der LMU als einer der ganz wenigen Universitäten weltweit alle drei christlichen Konfessionen haben, ist eine einmalige Chance, das Konzept der Proaktiven Toleranz als Weg zum Frieden zu praktizieren.
Gegenwärtig ist der Konflikt mit der ROK und dem russischen Regime jedoch eskaliert und ein vertrauensbildender Dialog ist nur mit den davon unabhängigen Kräften möglich. Gegenüber dem System Kyrill und dem System Putin kann es nur um schonungslose kritische Aufklärung der Lügenpropaganda gehen. Das Buch „Putins Gift. Russlands Angriff auf Europas Freiheit“ von Gesine Dornblüth und Thomas Franke, zwei Journalisten, die lange in Moskau gelebt haben, hat mir für viele Zusammenhänge die Augen geöffnet.[14] Die sehr professionellen Methoden der Desinformation, der gezielten Förderung von Spaltung und Korruption in europäischen Ländern – beispielsweise in Georgien oder im Baltikum, aber auch in Deutschland – und die in sich kohärenten, suggestiv konstruierten Erzählungen zur Umdeutung der Geschichte und der Konflikte mit dem Ziel der Delegitimation des Westens, sind eine neue Form der Kriegsführung als Cyber War. Es ist ein geistiger und medialer Krieg um Deutungshoheit. Das erste Opfer eines jeden Krieges ist die Wahrheit.[15]
Ausgangspunkt des Krieges zwischen Russland und der Ukraine ist der russische Neoimperialismus, der in dem durch Repression und Lüge gekennzeichnete System Putin einen neuen Höhepunkt gefunden hat, der jedoch tiefe historische Wurzeln im Zarismus und Stalinismus hat. Dieses revisionistische Herrschaftssystem zu kritisieren, ist nicht westlicher Kulturimperialismus, sondern eine Antwort auf das universale menschliche Bedürfnis nach Freiheit von Gewalt, Leid und Lüge. Ich möchte der Auffassung von Herfried Münkler und Carlo Masala, dass moralische Argumente in dem Kampf um eine neue Weltordnung, nur noch eine marginale Rolle spielen,[16] widersprechen, jedoch mit einer Differenzierung: Zunächst stehen strategische Machtkonflikte im Vordergrund und in diesem harten Ringen sind moralische Argumente nicht unmittelbar wirksam. Die Zustimmung, die Putin in China, Indien, Iran, Nordkorea oder Südafrika und nicht zuletzt auch in der eigenen Bevölkerung findet, hängt jedoch wesentlich ab von dem Narrativ des Kulturkonfliktes gegen die Dominanz „des Westens“ und der Behauptung, Europa müsse gegen den US-amerikanischen Einfluss „dekolonialisiert“ werden. Das Feindbild „liberaler Westen“ eint derzeit völlig heterogene Mächte. Diese Erzählung ist durchaus mit moralischem Anspruch aufgeladen.
Jede nationale Identität ist ein Konstrukt. Synergien und Grenzen müssen ausgehandelt werden und verschieben sich immer wieder. Europa ist ein Kontinent der Vielfalt, der Heterogenität von Sprachen und Kulturen. Durch den Krieg sind tiefe Gräben der Entfremdung zwischen Russland und der Ukraine sowie vielen anderen europäischen Ländern entstanden. Vertrauen ist auf Generationen hin zerstört. Dennoch ist es falsch, daraus eine unüberwindliche Feindschaft zwischen den Völkern abzuleiten. Das System Putin ist wie eine Krankheit, die das russische Volk heimgesucht hat – vergleichbar der Krankheit des Nationalsozialismus in Deutschland. Nicht das russische Volk und die russische Kultur gilt es zu bekämpfen, sondern das Herrschaftssystem von Repression und Lüge. Dieses ist jedoch durch eine lange Tradition autokratischer Systeme tief in der russischen Mentalität und Gesellschaftsform verankert. Ob die „Medizin“ einer Kultur der Erinnerung an die Opfer von Gewalt als Handwerk des Friedens und Zeugnis geschichtlicher Wahrhaftigkeit dagegen eine Chance hat, ist schwer einzuschätzen.
[1] Samuel P. Huntington: The Clash of Civilizations and the Remaking of World Order, New York 1996
[2] Francis Fukuyama: The End of History and the Last Man, New York 1992.
[3] Francis Fukuyama: Identität. Wie der Verlust der Würde unsere Demokratie gefährdet, Hamburg 2019.
[4]Bernard Lewis: Die Wut der arabischen Welt. Warum der jahrhundertelange Konflikt zwischen dem Islam und dem Westen weiter eskaliert, Frankfurt am Main 2003.
[5] Herfired Münkler: Welt in Aufruhr. Die Neuordnung der Mächte im 21. Jahrhundert, Berlin 2024, 88-93.
[6] Martin Riesebrodt: Die Rückkehr der Religionen. Fundamentalismus und der „Kampf der Kulturen“, München 2001, 18.
[7] Markus Vogt: Nationalistische, religiöse und moralische Identitätskonstruktionen als Legitimation im Ukrainekrieg, in: MThZ 73 (2022), 198-207; englisch: ders.: The Dangerous Construction of National, Religious and Moral Identities in The Unkrainian War, in: Proceedings of the European Academy of Sciences & Arts 1 (2022), 15-20; doi.org/10.5281/zenodo.7185003.
[8] Das erklärte das 25. Weltkonzil des Russsichen Volkes. Der Weltkirchenrat akzeptierte diese Formulierung nicht; vgl. ÖRK: Erklärung des Weltkonzils des Russischen Volkes, die den Ukraine-Konflikt als „Heiligen Krieg“ beschreibt, „nicht vereinbar“, 18.04.2024: https://www.oikoumene.org/de/news/wcc-cannot-reconcile-world-russian-peoples-council-decree-describing-ukraine-conflict-as-holy-war.
[9] Martin Schulze-Wessel: Im Krieg gegen die Zivilisation des Westens, in: forschung. Das Magazin der Deutschen Forschungsgemeinschaft 4/2024, 24-29.
[10] Vgl. Brytsyn, Mykhailo/Vasin, Maksym: Faith Under Russian Terror: Analysis oft he Religious Situation in Ukraine. Kyiv 2025;
https://www.osvnews.com/report-russia-weaponizes-orthodoxy-to-persecute-kill-christians-in-ukraine/.
[11]Mosche Zimmermann: Niemals Frieden? Israel am Scheideweg, Berlin 2024.
[12]Zur Differenzierung zwischen Überzeugungs- und Interessenskonflikten vgl. Wilhelm Korff: Die Energiefrage. Entdeckung ihrer ethischen Dimension, Trier 1992, 232-235.
[13]Regina Elsner: Ukraine-Krieg: „Diplomatie des Vatikans ist Moskau-zentriert“, Deutschlandfunk 15. Oktober 2024, 09:37 Uhr; www.deutschlandfunk.de/ukraine-krieg-diplomatie-des-vatikans-ist-moskau-zentriert-regina-elsner-dlf-e02d4c91-100.html
[14] Gesine Dornblüth/Thomas Franke: Putins Gift. Russlands Angriff auf Europas Freiheit, Freiburg 2024.
[15] Zu dieses dem amerikanischen Senator Hiram Johnson (1866-1945) zugesprochen Diktum vgl. Stefan Hartwig: Konflikt und Kommunikation. Berichterstattung, Medienarbeit und Propaganda in internationalen Konflikten vom Krimkrieg bis zum Kosovo, Münster u.a. 1999, 4.
[16] Herfried Münkler: Welt in Aufruhr. Die Neuordnung der Mächte im 21. Jahrhundert, Berlin 2024, 65-72; Carlo Masala: Weltunordnung. die globalen Krisen und die Illusion des Wesens, 8. Auflage München 2023, 18-64.