Prof. Dr. Herfried Münkler, geboren 1951, ist emeritierter Professor für Politikwissenschaft an der Berliner Humboldt-Universität. Viele seiner Bücher gelten als Standardwerke, etwa „Die Deutschen und ihre Mythen“ (2009, ausgezeichnet mit dem Preis der Leipziger Buchmesse), sowie „Der große Krieg“ (2013), „Die neuen Deutschen“ (2016), „Der Dreißigjährige Krieg“ (2017) und „Welt in Aufruhr. Die Ordnung der Mächte im 21. Jahrhundert“ (2023, ausgezeichnet mit dem Bruno-Kreisky-Preis für das politische Buch), die alle monatelang auf der Bestsellerliste standen. Herfried Münkler wurde vielfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem Wissenschaftspreis der Aby-Warburg-Stiftung und dem Carl Friedrich von Siemens Fellowship.
Die abschätzige Behandlung der Europäer durch die Trump-Administration ist ein untrügliches Zeichen dafür, dass die jetzt in den USA an die Macht gelangten Kräfte kein sonderliches Interesse an den Europäern als Verbündeten mehr haben. Das hat offensichtlich wenig mit dem Umstand zu tun, dass die Europäer in den letzten Jahrzehnten deutlich weniger für Rüstung ausgegeben haben als die USA. Ja, die Europäer waren nach dem Ende der Blockkonfrontation die Kostgänger der US-amerikanischen Sicherheitszusagen und haben sich wenig um ihre eigenen Fähigkeiten gekümmert. Wäre es jedoch nur darum gegangen, dann hätte man in Washington die jüngste Entwicklung als ernsthafte Veränderung begreifen und die Europäer mit Aufmunterungen und Ermahnungen zu noch größeren und nachhaltigeren Anstrengungen anhalten können. Aber daran hatte die Trump-Administration kein Interesse, sonst hätte sie die europäischen Regierungen nicht auf diese Weise gedemütigt, wie sie es in den letzten Wochen getan hat.
Das begann mit Trumps Erklärung, er betrachte das zu Dänemark gehörende Grönland als US-Interessengebiet und amerikanische Einflusszone, die er per Kauf unter US-Kontrolle bringen werde. Sollte Dänemark dazu nicht bereit sein, werde er es auch ohne Vereinbarung in Besitz nehmen. Dem folgte die Düpierung der Europäer durch den Entschluss, allein mit Putin über die Zukunft der Ukraine zu verhandeln und dabei noch vor Verhandlungsbeginn der russischen Seite Zugeständnisse zu machen, ohne diese zuvor, wie unter Verbündeten eigentlich üblich, mit den Europäern abzusprechen. Trump Zugeständnisse an Putin waren weitgehend und betrafen mit der Bereitschaft zu Akzeptanz der von Russland völkerrechtswidrig annektierten Gebiete im Donbass als russisches Staatsgebiet auch die Absage an einen NATO-Beitritt der Ukraine. Beides, die Unversehrbarkeit von Grenzen und die Option eines ukrainischen NATO-Beitritts, waren Positionen, die von den Europäern seit Beginn des russischen Angriffskrieges als Grundlage von Vereinbarungen zur Beendigung des Krieges vertreten wurden. Trump hat die Europäer desavouiert, um mit Putin ins Gespräch zu kommen. Und er hat bei der Verfolgung dieses Ziels auch nicht darauf bestanden, dass die Europäer an den Verhandlungen zur Kriegsbeendigung beteiligt sollten. Das allein würde eigentlich genügen, um die NATO als von amerikanischer Seite aufgekündigt anzusehen. Wer unter den europäischen Politikern jetzt noch glaubt, auf diesen US-Präsidenten sei bündnispolitisch Verlass, ist entweder ein Traumtänzer oder ein Einflussagent der russischen Politik.
Als ob das noch nicht genug wäre, hat Trump mit der Ukraine inzwischen ein Rohstoffabkommen ausgehandelt, das den USA einen exklusiven Zugriff auf in der Ukraine abbaubare Mineralien und Seltene Erden verschafft. Als der ukrainische Präsident
Selenskij sich dieser Art von „Rückzahlung“ der von Seiten der USA unter der Biden-Administration geleistete Unterstützung nicht umgehend fügen wollte, wurde er von Trump unter massiven Druck gesetzt: indem der US-Präsident das russische Narrativ übernahm, Selenskij sei, weil seine Amtszeit abgelaufen sei, ein „Diktator“ und trage obendrein einen wesentlichen Anteil der Schuld am Ausbruch des Krieges. Und um diesen Druck zu erhöhen, drohte der mit Trump eng verbündete Tech-Milliardär Elon Musk damit, seine starlink-Satelliten für die Ukraine abzuschalten, womit die ukrainischen Streitkräfte nicht mehr kommunikationsfähig gewesen wären. Selenskij beugte sich dieser Erpressung, woraufhin Trump verkündete, er habe das Geld der US-Steuerzahlern, das die Biden-Administration an die Ukraine verschleudert habe, wieder zurückgeholt und dabei auch noch für einen Zusatzgewinn gesorgt. Auch das zog Trump ohne Absprache mit den Europäern und in offenem Widerspruch zu deren Politik durch. Wohlgemerkt: Addiert man die Hilfszahlungen und Waffenlieferungen für die Ukraine, so haben die Europäer 60 Prozent und die USA 40 Prozent dazu beigetragen. Trump ist nicht nur ein unzuverlässiger Verbündeter, sondern auch einer, der fortgesetzt gegen die Interessen und Vorstellungen seiner Bündnispartner agiert, offenbar davon besessen, Vorteil für Vorteil für das eigene Land herauszuschlagen. Das ist das Ende von Bündnissen – oder zumindest die Verwandlung von Partnern in Befehlsempfänger.
Was waren die tragenden Säulen des transatlantischen Westens? Da war zunächst die gern herausgestellte Wertegemeinschaft, in deren Zentren Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Marktwirtschaft standen. Da war sodann der atlantische Wirtschaftskreislauf, in dem Kapital und Güter zwischen Europa und den USA zirkulierten, was zu einem engen wirtschaftlichen Austausch und in der Folge zu wechselseitigen Abhängigkeiten führte. Und da war schließlich das geopolitisch begründete amerikanische Interesse an der atlantischen Gegenküste, ein altes strategisches Prinzip, wonach weder Flüsse noch Meere wirkliche Sicherheit gegen Angreifer von der anderen Seite bieten, sondern dazu die Kontrolle der gegenüberliegenden Küste durch eigene Kräfte erforderlich war. Diese drei Pfeiler stützten sich gegenseitig, wenn an der Tragfähigkeit eines von ihnen Zweifel aufkamen: Die wirtschaftliche Verflechtung war mitunter rückläufig und die Exportüberschüsse begünstigten zumeist die Deutschen, von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit konnte man in manchen NATO-Staaten (nicht immer) sprechen, aber im Großen und Ganzen erwies sich das Bündnis als stabil und war der ruhende Pol in den geopolitischen Veränderungen der letzten Jahrzehnte. Es war der wichtigste Anker der Weltordnung.
Die Trump- Administration ist jetzt damit beschäftigt, diesen Stabilitätsgaranten zu zerschlagen. Der europäisch-amerikanische Wirtschaftskreislauf wird durch die von Trump angekündigten Straf- und Sonderzölle zumindest ausgehöhlt und teilweise wohl auch unterbrochen; die Verteidigungsgemeinschaft ist schon jetzt durch eine Reihe von Ankündigungen des US-Präsidenten ins Wanken geraten, so dass für Putin die Versuchung groß ist, einmal auszutesten, ob die amerikanischen Sicherheitsgarantien für Europa tatsächlich noch Bestand haben; und die Rede von US-Vizepräsident J.D. Vance auf der diesjährigen Münchner Sicherheitskonferenz war die Aufkündigung der politischen Wertegemeinschaft, insofern er sich aufdringlich und ahnungslos zugunsten der AfD, in den deutschen Wahlkampf einmischte: Er warf den Parteien der demokratischen Mitte vor, mit der Errichtung einer „Brandmauer“ gegen die rechte Partei 20 Prozent der Wähler von der politischen Macht auszuschließen – und das sei undemokratisch. Was muss man dann über die USA sagen, wo nach der Wahl Trumps zum Präsidenten nicht nur 48 Prozent der Wähler von der Macht in Washington ausgeschlossen sind und obendrein vom gewählten Präsidenten auch noch in einem Rachefeldzug systematisch verfolgt und benachteiligt werden? Vance‘ Behauptungen waren kein Argument, sondern die Aufkündigung der wertpolitischen Gemeinsamkeiten.
Lässt sich dieser radikale Schwenk der USA, diese Politik der Zerschlagung des transatlantischen Westens erklären? Ist dahinter eine Strategie erkennbar? Oder handelt es sich dabei bloß um eine Laune des Präsidenten, deren Folgen in vier Jahren bei einem anderen Wahlausgang auch wieder rückgängig gemacht werden können? An letzteres klammern sich jetzt einige Politiker in Deutschland, indem sie auf die vormalige Präsidentschaft Trumps verweisen, nach deren Ende es wieder zu einer engen und vertrauensvollen Kooperation zwischen US-Amerikanern und EU-Europäern kam. Dagegen ist einzuwenden, dass Trump dieses Mal viel radikaler und konsequenter vorgeht. Zwar lässt sich sein Agieren bei der Aushandlung des Doha-Abkommens, das den Abzug der westlichen Streitkräfte aus Afghanistan regelte, als er allein mit den Taliban verhandelte und die Europäer nur beiläufig wissen ließ, zu welchen Ergebnissen man gekommen sei, als Blaupause für sein aktuelles Vorgehen in der Ukrainefrage betrachten. Aber das betraf damals wesentlich US-Interessen, bei deren Verfolgung die Europäer nach Artikel 5 NATO-Vertrag Beistand leisteten. In der Ukraine geht es dagegen vor allem um europäische Interessen, nicht nur solche der Sicherheit, und insofern hat Trumps Agieren hier dramatische Folgen für Europa. Das lässt sich nicht wegreden.
Und der sich abzeichnende Rückzug des US-Militärs aus Europa? Wo bleibt dann der geostrategische Imperativ einer Kontrolle der Gegenküste? Hier kommt Trumps Interesse an Grönland ins Spiel. Eine massive US-Militärpräsenz in Grönland – und Island, das als nächstes zum Thema werde dürfte – soll die sehr viel teurere Präsenz in Europa ersetzen. Außerdem stört die US-Militärpräsenz in Europa den von Trump angestrebten Ausgleich mit Russland, den er anstrebt, um sich politisch ganz auf China als „Hauptgegner“ der USA konzentrieren zu können. Um da erfolgreich zu sein, sind jedoch die Europäer sehr viel wichtiger als Russland, zumal dann, wenn der Konflikt als Wirtschaftskonflikt geführt werden wird. Es könnte sein, dass der von Trump geprügelte Hund Europa ihm dann kräftig ins Bein beißt, indem er sich an Sanktionen gegen China nicht beteiligt. Zugleich könnten sich dann neue geopolitische Konstellationen abzeichnen: die USA und Russland auf der einen, China und die Europäer auf der anderen Seite. Die Europäer sollten das als geopolitische Perspektive deutlich in Washington kommunizieren. Sie sind nicht wehrlos. Sie müssen nur aufhören, wie das Kaninchen vor der Schlange zu sitzen.