„What makes European military ethics distinctive?“ EuroISME-Jahreskonferenz in Tallinn/Estland

Nordic Forum, Tallin / Estland, 21. bis 24. Mai 2024

 

Nur etwa 200 km von der Grenze zu Russland entfernt liegt Tallinn, die Hauptstadt von Estland. Angesichts des seit mehr als zwei Jahren anhaltenden russischen Angriffskriegs auf die Ukraine hätte es keinen passenderen Ort für die Jahrestagung der Europäischen Gesellschaft für Militärethik (EuroISME) geben können. In dem seit 1991 von der Sowjetunion unabhängigen baltischen Staat ist die Bedrohung deutlich spürbar. Schon in seinem Grußwort zur Eröffnung sprach Ilmar Tamm, General der estnischen Verteidigungskräfte, von der notwendigen Bereitschaft seiner Landsleute, für ein weiterhin freies und unabhängiges Estland zu kämpfen.

In EuroISME, der Europäischen Gesellschaft für Militärethik, haben sich engagierte Kräfte aus der Wissenschaft, der Hochschullehre und der militärischen Praxis mit dem Ziel zusammengeschlossen, militärethische Grundlagen in einem spezifisch europäischen Ansatz zu analysieren und weiterzuentwickeln. Die EuroISME-Konferenzen finden jährlich an verschiedenen Orten auf dem europäischen Kontinent statt und dienen der fachlichen Weiterbildung, dem Austausch erprobter Lehr- und Arbeitsmethoden und der kollegialen Vernetzung. Sowohl Institutionen als auch Einzelpersonen sind als neue Mitglieder willkommen.

Bei der diesjährigen Jahrestagung waren unter den europäischen Teilnehmenden viele Regionen von Westeuropa und Skandinavien über die deutschsprachigen Länder und das Baltikum bis zum Balkan vertreten; wenn auch längst nicht alle Länder. Bereichernd waren darüber hinaus die Perspektiven von außereuropäischen Teilnehmenden etwa aus Brasilien, Kanada, den USA, Israel und Australien. Vor allem aber kamen Experten und Expertinnen aus unterschiedlichen Institutionen der Forschung wie der Praxis zusammen. Dies ermöglichte einen von vielen Seiten als einzigartig bezeichneten Austausch unterschiedlicher Sichtweisen und Erfahrungswerte auf Augenhöhe.

Was ist an der europäische Militärethik besonders? So lautete die Leitfrage der diesjährigen Konferenz. Eine gemeinsame Wurzel konnte in den europäischen philosophischen und religiösen Traditionen gefunden werden, eine gemeinsame Orientierung in der Achtung des internationalen Völkerrechts und dem Bekenntnis zu einer liberalen Weltordnung. Insgesamt beleuchteten die Plenarsitzungen und parallelen Panels ein breites Themenspektrum von theologischen Grundfragen, politischen Dimensionen, ethischer Bildung und militärischer Praxis.

Eine eigene Plenarsitzung war der aktuellen Krise im Gazastreifen gewidmet. EuroISME-Präsident Air Commodore (retd.) John Thomas (Großbritannien) wies einleitend darauf hin, dass nur wenige historische Daten wie der 9. November 1989 oder der 11. September 2001 für massive Umbrüche in der Geschichte stehen. Die gleiche Bedeutung maß er dem 7. Oktober 2023 und dem fundamentalen Angriff der terroristischen Hamas auf Israel bei. Zu seiner Lebzeit habe es keine Situation gegeben, die ethisch komplexer und herausfordernder gewesen wäre als der derzeitige Konflikt. So wurde denn auch äußerst kontrovers diskutiert; immerhin riss der Gesprächsfaden nicht ab.

Julia Böcker und Kristina Tonn vertraten das zebis mit einem Vortrag im Panel „Historische und ökologische Perspektiven“, das von Col (ret.) Jean-Marc Vesco (Frankreich) moderiert wurde. In einer interaktiven Präsentation machten sie deutlich, wie Gedenkstätten in ihrer herausragenden Bedeutung für das Gedenken und Erinnern als Lernorte für die ethische, politische und historische Bildung dienen können. Aus ihren Erfahrungen mit verschiedenen Lernformaten an Gedenkstätten, insbesondere dem einwöchigen Workshop in Auschwitz, haben sie eine Matrix für ein Bildungsprogramm entwickelt. Dies banden sie in den größeren Kontext einer umfassenden Gewissensbildung für Soldatinnen und Soldaten ein.

Für die zebis-Delegierten waren insbesondere die praxisorientierten Impulse für die ethische Bildung von großem Interesse. So konnten sie von Dr. Daniel Messelken (Center for Military Medical Ethics, Universität Zürich) über spielbasiertes Training in der medizinethischen Ausbildung lernen. Major Jeanette de Weert, MA (Niederlande) führte ins Konzept der Themenzentrierten Interaktion (TCI) nach Ruth E. Cohn zum Gewinn moralischer Kompetenz ein. OTL Dr. Patrick Hofstetter aus der Schweiz ging der spannenden Frage nach, ob Krieger in westlichen Streitkräften unverzichtbar, untragbar oder beides sind und welchen Einfluss soldatische Identitäten auf ihre ethischen Einstellungen und Werte haben.

Zum Abschluss der Konferenz betonte der EuroISME-Präsident die Komplexität und Aktualität militärethischer Fragen in diesen Zeiten multipler Krisen und Konflikte. Wichtig sei insbesondere die Verknüpfung mit den politischen Entscheidungsebenen über Krieg und Frieden, in den Worten des Präsidenten: „Go and preach the gospel of military ethics. There is no better time than now“.

Der Dialog wird fortgesetzt: Die 14. Jahreskonferenz von EuroISME wird vom 21. bis 23. Mai 2025 in Madrid stattfinden. Die Teilnehmenden werden in der Escuela de Guerra y Liderazgo del Ejército de Tierra – der Kriegs- und Führungsschule des Heeres – zu Gast sein. Das Thema der Konferenz lautet vielversprechend: „Die Theorie des gerechten Krieges – relevant oder ein Relikt?“

In einer Zeit voller Unsicherheiten, in der ethische Dilemmata an der Tagesordnung sind, sind Foren wie die EuroISME-Konferenz unerlässlich. Sie bieten Raum für Reflexion und Austausch. Vor allem aber beginnt gerade nach der Konferenz der Einsatz für ihr Ziel, das Bewusstsein für Militärethik in der Politik, Wissenschaft und den Streitkräften zu stärken.

EuroISME: www.euroisme.eu

Bericht: Julia Böcker

Bilder: ©EuroISME 2024 / Toomas Tuul