Hamburg - 09.02.2024

Es kann hart werden

Dr. Hans-Peter Bartels ist seit Mai 2022 Präsident der Gesellschaft für Sicherheitspolitik. Von 2015-2020 war er Wehrbeauftragter des Deutschen Bundestages.
Er studierte Politische Wissenschaft, Soziologie und Volkskunde an der Christian-Albrechts-Universität Kiel und wurde dort 1988 promoviert. Er trat 1979 in die SPD ein und war von 1998 bis zu seiner Ernennung zum Wehrbeauftragten Mitglied des Deutschen Bundestages – zuletzt als Vorsitzender des Verteidigungsausschusses.

Was wenn wieder Krieg käme, zu uns? Es schienen doch Sätze für die Ewigkeit zu sein, die 1990 eine neue Epoche der Weltgeschichte markierten: „Das Zeitalter der Konfrontation und der Teilung Europas ist zu Ende gegangen. […] Europa befreit sich vom Erbe der Vergangenheit. […] Nun ist die Zeit gekommen, in der sich die jahrzehntelang gehegten Hoffnungen und Erwartungen unserer Völker erfüllen: unerschütterliches Bekenntnis zu einer auf Menschenrechte und Grundfreiheiten beruhenden Demokratie, Wohlstand durch wirtschaftliche Freiheit und soziale Gerechtigkeit und gleiche Sicherheit für alle unsere Länder.“ So steht es mit den Unterschriften aus Ost und West in der Charta von Paris vom 21. November 1990. Von einem heraufziehenden Zeitalter des Friedens und der Kooperation träumten damals viele, als sich mit dem Ende des Kalten Krieges die bipolare Weltordnung in Wohlgefallen auflöste.

Seit nunmehr zwei Jahren führt Wladimir Putins Russland einen echten, tödlichen Eroberungskrieg in der Ukraine. Und Moskau droht dem „kollektiven Westen“, der Nato, insbesondere Polen, Finnland, Estland, Lettland und Litauen mit militärischer Gewalt. Nicht zu reden von den Nicht-Nato-Staaten Moldau, Georgien und auch Belarus, wo inzwischen schon russische Atomwaffen vorausstationiert sind.

Unsere Bundeswehr-Soldaten, die in Deutschland ukrainische Rekruten ausbilden, lernen selbst gerade wieder etwas, das seit dem Ende des Kalten Krieges 1990 eigentlich der Vergangenheit angehören sollte: das Anlegen von Schützengräben wie im Ersten Weltkrieg. Länger schon sprechen deutsche Spitzenmilitärs auch nicht mehr von „Einsätzen“ und „Einsatzbereitschaft“, sondern von „Kriegstauglichkeit“ und „Krieg“. Verteidigungsminister Boris Pistorius hat sich diesem neuen Wording angeschlossen, er persönlich benutzt den Begriff „Kriegstüchtigkeit“. Damit will er aufrütteln. Nach Jahrzehnten der Friedensdividende, der gutgemeinten Out-of-Area-Missionen in Afghanistan oder in Afrika, nach Russlandromantik und Verzwergung der Truppe ist das offenbar bitter nötig.

„Kämpfen können, um nicht kämpfen zu müssen“, so lautete das Credo der alten Bundeswehr, als Deutschland, Europa und die Welt noch in Ost und West geteilt waren. Dieses Konzept der Stärke hat damals funktioniert, der Kalte Krieg wurde nie heiß, ein Dritter Weltkrieg fand nicht statt. Oder in den Worten der Römer: Si vis pacem para bellum – „Wenn du Frieden willst, bereite den Krieg vor.“

Doch die dramatische Wahrheit heute lautet: Wir sind nicht vorbereitet. Obwohl das deutsche Heer am Tag des russischen Überfalls meldete, selbst nahezu „blank“ dazustehen, so ist nach all den – absolut notwendigen – Materialabgaben an die Ukraine der Ausrüstungsstand unserer Streitkräfte im Augenblick eher noch schlechter als vor zwei Jahren. Neu geplant und bestellt ist vieles, schon fertig fast nichts. Industriekapazitäten fehlen. Hohle Strukturen aber schrecken nicht ab. Wir brauchen Tempo! Und eine gesamtgesellschaftliche, eine nationale Kraftanstrengung.

Denn der Schutz Deutschlands und Europas vor Krieg, die Verteidigung unserer Demokratie und unseres Wohlstands: Diese Existenzfragen sind nicht ein Spezialproblem unserer 180.000 Soldatinnen und Soldaten, sondern eine Herausforderung für das ganze Land, für alle 85 Millionen, die heute hier in Freiheit leben. Ohne äußere Sicherheit wird vieles andere prekär. Zugespitzt könnte man sagen: Auch Nachhaltigkeit muss bewaffnet sein! Nicht mehr alles, was das gegenwärtige Regierungsbündnis 2021 im Koalitionsvertrag vereinbart hatte, kann heute noch gleich wichtig sein. Wehrhaftigkeit ist das Gebot der Stunde!

Aber es ist nicht nur die internationale Politik, die durch Unübersichtlichkeit und brutale Polarisierung die Menschen verunsichert. Es hat sich auch im Inneren unserer westlichen Gesellschaften nach dem Ende des Kalten Krieges etwas verändert, das Anlass zur Sorge gibt. Innergesellschaftliche politische Konflikte erscheinen heute unversöhnlicher, die Polarisierung extremer, die Parolen härter. Demokratie steht unter Druck. Der Front National in Frankreich, die AfD in Deutschland, Trump in Amerika – sie alle sehen sich außerhalb „des Systems“, manche spielen mit einem bedrohlichen „Wir können auch anders“.

In gewisser Weise korrespondiert dieser innenpolitische Klimawandel mit der sich ausbreitenden internationalen Konfrontationskultur. Das macht vieles schwerer. Hochkonjunktur hat weltweit leider nicht die deliberative Demokratie, nicht der aufgeklärt-inklusive Pluralismus unserer besten Jahre, sondern das dröhnende Pathos des exklusiven Kollektivsingulars: Volk, Nation, Religion.

Überbordende Politikverdrossenheit erleben wir heute in zu großen Teilen auch unserer deutschen Gesellschaft. Demokratie vererbt sich nicht. Sie muss von jeder Generation neu gelernt, angeeignet, eingeübt und gelebt werden. Freiheit und Recht fielen nicht vom Himmel, gerade in Deutschland nicht. Sie wurden erkämpft. Sehr viele Menschen sind gestorben dafür, dass wir heute ganz friedlich unsere Regierungen wählen und abwählen können. Unsere Ordnung der Freiheit folgt keiner Theorie der Wissenschaftlichkeit, keiner religiösen Offenbarung, sondern den politischen Kompromissen, mit denen eine pluralistische Gesellschaft den notwendigen demokratischen Konsens herstellt. Nichts ist perfekt. Vieles ist änderbar. Jeder kann mitmachen. Niemand stirbt für seine Meinung. Das ist Demokratie.

Ich wundere mich manchmal über ein rein formales Verhältnis zur Demokratie, das nicht wenige Mitbürger für das Ganze halten. Ich wundere mich über all diese aberwitzigen 100 Jahre alten Klischees vom angeblich einheitlichen „Volkswillen“, vom schädlichen „Parteiengezänk“ oder von den scheinbar immer „faulen Kompromissen“. Diese Beobachtungen zur Renaissance antidemokratischer Einstellungsmuster bedeuten keineswegs, dass im politischen Alltagsbetrieb der Gegenwart irgendwie schon alles seine Richtigkeit hat und nur eben recht viele Mitbürgerinnen und Mitbürger die gute Politik leider nicht anerkennen wollen. Das wäre zu einfach.

Im Gegenteil: Der Politikbetrieb der Etablierten ist oft ein nicht unwesentlicher Teil des Problems. Man sollte zum Beispiel schon selbst gut über Kompromisse reden, die man in eigener Mitverantwortung ausgehandelt hat – sonst braucht man sich nicht zu wundern, wenn die Kunst des Kompromissemachens im demokratischen Publikum immer weniger Fans hat. Wer nicht erklären will oder kann, dass es in einer pluralen Gesellschaft mit den vielen unterschiedlichen Erfahrungen, Herkünften, Interessen, Lebenslagen, Meinungen und Weltanschauungen ganz vieler unterschiedlicher Menschen, die miteinander diese Gesellschaft bilden, nicht eine wahre alternativlose politische Lösung für jedes Problem gibt, der oder die versäumt etwas ganz Wesentliches.

Es gehört heute, aber eigentlich seit jeher, zum „Politik machen“, nicht nur etwas zu wollen und zu entscheiden, sondern auch immer wieder die Bedingungen politischen Handelns zu erklären. Und für die gefundene Lösung zu argumentieren. Streit der Argumente ist etwas Gutes, Würdiges, Schönes – es darf dann aber auch nicht aussehen wie Gegnerbeschimpfung, Rechthaberei und selbstgerechtes Moralisieren.

Manchmal scheint es mir so, als ob ein Fass voller Politikverdriesslichkeiten nach Jahrzenten des steten Tropfens nun übergelaufen ist und plötzlich den ganzen Boden, auf dem wir stehen, nass macht. Solange Sprachlosigkeit, personelle Zumutungen, Skandale, Peinlichkeiten und partielle Problemblindheiten immer nur einzelne Tropfen waren, die das Fass füllen, trafen auch die Verdrossenen ihre Wahl noch innerhalb des gewohnten Parteienspektrums oder wurden Nichtwähler. Nun ist das anders. Nicht nur in Deutschland. Und nicht nur wegen der Tendenz nach rechts außen. Populismus triumphiert, als gäbe es einen gewissen Überdruss an dem, was der deutsche Philosoph Theodor W. Adorno die durchschlagende Kraft der Vernunft genannt hat. Aber vielleicht hält sich die Vernunft momentan auch zu vornehm zurück, um durchschlagend sein zu können.

Es wird ungemütlich, innen wie außen. Die globale Gesamttendenz geht in Richtung Eskalation: Eskalation der Sprache, der Mittel, der Abgrenzungssymbolik. Nichts davon ist naturgegeben. Man kann es ändern, den Trend umkehren. Mit Johannes Rau: „Versöhnen statt spalten“. So lautete das Lebensmotiv des früheren deutschen Bundespräsidenten. Das erfordert Selbstbewusstsein, Klarheit und Geduld. Reden hilft, in der deutschen wie in der auswärtigen Politik. Erklären, zuhören, argumentieren, ausgleichen – aus einer souveränen Position der Stärke. Was denn sonst!

Zu Selbstbewusstsein und Klarheit gehört Glaubwürdigkeit in unseren kollektiven Sicherheitssystemen, das heißt vor allem, die kollektive Verteidigungsfähigkeit in Nato-Europa wiederherzustellen. Deutschland muss diesen Weg weitergehen und sollte keine Sonderwege suchen.

Was, wenn der Ukraine irgendwann Munition und Soldaten ausgehen? Wenn die US-Politik ins Autoritäre und Isolationistische kippt? Wenn auch in Deutschland Extremisten und Putinfreunde mehr als ein Drittel der Wählerstimmen auf sich vereinigen? Das Klima wird rauer. Mit „Augen zu“ und „Weitermachen wie bisher“ wird dieser politische Klimawandel nicht zu bewältigen sein. Unsere Verantwortung ist seit dem Ende des Ost-West-Konflikts gewachsen. Die Welt erwartet viel von Deutschland. Unser Beitrag muss glaubwürdig sein, auch in der letzten militärischen Konsequenz, wenn es um Bündnissicherheit geht.

Es kann hart werden. Aber wir sind trotzalledem ein Land von enormer Kraft, die viertstärkste Volkswirtschaft der Welt, zweitgrößte Nato-Nation, größtes Land in Europa. Für unsere ganze deutsche Gesellschaft muss jetzt der Weg zu neuer Wehrhaftigkeit Priorität bekommen, nicht nur finanzpolitisch. Das bedeutet „Zeitenwende“.

Im vierten und letzten Band seiner Geschichte des Westens, erschienen 2015, erteilt der große deutsche Historiker Heinrich August Winkler allem Relativismus in der Geschichtswissenschaft eine Absage. Er sieht durchaus einen Sinn in der historischen Entwicklung der letzten zwei Jahrhunderte: „Der nichtwestlichen Welt präsentiert sich der Westen heute häufig als ein uneiniges Gebilde. Die westlichen Demokratien vertreten einen schrumpfenden Teil der Weltbevölkerung. Ihre weltwirtschaftliche Bedeutung ist ebenso rückläufig wie ihr geopolitischer Einfluss. Und doch gibt es etwas, was den Westen im Innersten zusammenhält und mehr denn je seine globale Anziehungskraft ausmacht: das normative Projekt der Amerikanischen Revolution von 1776 und der Französischen Revolution von 1789 in Gestalt der unveräußerlichen Menschenrechte, der Herrschaft des Rechts, der Gewaltenteilung, der Volkssouveränität und der repräsentativen Demokratie“.

Es gab fürchterliche Rückfälle in die Barbarei, Nazi-Deutschland war ein Feind des Westens. Heute gehört das neue Deutschland dazu, nach der Wiedervereinigung auch als Ganzes, verbunden mit allen unseren Nachbarn in Europa. Das ist das größte Glück unserer Geschichte. Wir müssen es fassen und verteidigen.